Schlaf jetzt, im Feuer.
Der zwanzigste Newsletter (2021).
Liebe Freund*innen
Grüße vom Schreibtisch des Tricontinental: Institute for Social Research.
Israels massive Kriegsmaschinerie greift unter kompletter Missachtung des Völkerrechts die besetzten palästinensischen Gebiete (Occupied Palestinian Territory, kurz OPT) an. Da die OPT ein besetztes Gebiet sind, ist es dem Besatzer – Israel – laut den Vereinten Nationen nicht gestattet, den Charakter des besetzten Landes zu verändern. Das hat Israel jedoch nicht daran gehindert zu versuchen, Familien aus dem Jerusalemer Stadtteil Sheikh Jarrah zu vertreiben, was damit endete, dass israelische Grenztruppen in die al-Aqsa-Moschee eindrangen, gefolgt von Wellen von Luftangriffen, die täglich Tote und Verletzte fordern, deren Anzahl erst bekannt sein wird, wenn sich der Staub gelegt hat.
Entscheidend ist, dass die Palästinenser*innen nicht vor dieser Verletzung des Völkerrechts kapitulierten. Sie wehrten sich in Jerusalem und im gesamten Westjordanland, im Gazastreifen und in den an Israel angrenzenden Gebieten. Tausende von Menschen marschierten zur jordanisch-palästinensischen Grenze und zur libanesisch-palästinensischen Grenze, trotz der israelischen Drohung, auf sie zu schießen. Aus dem Gazastreifen feuerten verschiedene Gruppierungen Raketen ab, um Israel unter Druck zu setzen, die Gewalt in Jerusalem einzustellen. Die Raketen aus Gaza folgten den gewalttätigen und illegalen Provokationen Israels in den OPT; diese Raketen waren nicht Auslöser für die Ereignisse des Mai 2021.
In den letzten fünfzehn Jahren hat Israel den Gazastreifen wiederholt bombardiert – 2006, 2008, 2009, 2010, 2011, 2014, 2018 und 2019. Abgesehen von dieser «heissen» Gewalt verfolgt Israel eine Politik der Erstickung nicht nur gegen Gaza, sondern gegen die gesamten OPT, eine Politik der kalten Gewalt, die darauf abzielt, Palästinenser*innen soweit zu demoralisieren, bis sie die OPT verlassen. Israels Ablehnung der Ein-Staaten-Lösung (ein demokratischer Staat für Palästinenser*innen und Jüd*innen) und der Zwei-Staaten-Lösung (Israel und Palästina) mündet stattdessen in eine Drei-Staaten-Lösung (die Palästinenser*innen nach Ägypten, Jordanien und in den Libanon zu vertreiben). Dies ist per Definition ethnische Säuberung. Die Bombardierungen von 2021 waren besonders heftig, zu den Angriffszielen gehörten Gebäude, in denen die Presse ihren Sitz hat, und Flüchtlingslager. In Shateh (Gaza) starben bei einem Bombenangriff am 15. Mai zahlreiche Menschen. Die Familie Abu Hatab verlor zehn Mitglieder, darunter acht Kinder. Groteske Gewalt dieser Art kennzeichnet das israelische Apartheid-Projekt zur Vernichtung der Palästinenser*innen; Rogers Waters nennt diese Gewalt «ursprüngliche Verachtung».
Angesichts der eindeutigen Verstöße gegen das Völkerrecht und der unverhältnismäßigen Gewalt der israelischen Bombardements wurde allgemein erwartet, dass der UN-Sicherheitsrat einen Waffenstillstand fordert. Doch die US-Regierung von Präsident Joe Biden teilte den anderen Ratsmitgliedern mit, dass sie sich einer solchen Resolution nicht anschließen werde. Die USA allein blockierten letzte Woche die Veröffentlichung einer Erklärung des Rates zur Zuspitzung der Lage. Die USA lehnten zunächst auch die von Norwegen, Tunesien und China vorgeschlagene Abhaltung einer offenen Sitzung am Freitag ab, die letztendlich am Sonntag abgehalten wurde. Deshalb dankte der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu den Vereinigten Staaten und 24 weiteren Ländern für ihre Unterstützung Israels. Zu diesen Ländern gehört auch Brasilien: Dessen Präsident, Jair Bolsonaro, sprach sich für das Recht Israels aus, grausame Gewalt gegen Palästinenser*innen anzuwenden. Diese Aussage machte Bolsonaro nur wenige Tage nach dem Polizeieinsatz gegen die Bevölkerung von Jacarezinho in Rio de Janeiro, der zum Massaker an fünfundzwanzig Menschen führte. Der Unterschied zwischen Jacarezinho und Gaza ist lediglich eine Frage des Ausmaßes, die Brutalität ist dieselbe.
Am 15. Mai veranstaltete Tricontinental: Institute for Social Research and No Cold War ein Seminar zum Thema «China, USA und Brasiliens Suche nach einer unabhängigen Außenpolitik». Die ehemalige Präsidentin Dilma Rousseff sprach darüber, wie die Arbeiterpartei während ihrer Präsidentschaft (2011–2016) – und während der Regierung ihres Vorgängers Lula da Silva (2003–2011) – den Aufbau multipolarer Institutionen wie die erweiterte G20 (2008) und das BRICS-Projekt (2009) förderte. Es seien sicherlich keine perfekten Systeme, aber sie richten sich auf die Schaffung von Plattformen, die den Vereinigten Staaten nicht völlig untergeordnet sind. Beide haben ihr Potenzial nicht ausschöpfen können; «asymmetrische Beziehungen», sagte sie, «sind nicht gleichbedeutend mit Multipolarität». Die G20 lässt sich weiterhin von den westlichen Mächten leiten und die BRICS wurde durch den Rechtsruck in Brasilien und Indien geschwächt. «Das B und das I der BRICS haben Probleme», sagte sie. «Das B wegen Bolsonaro». In Bezug auf die strategische Notwendigkeit einer Rückkehr zum Projekt der Multipolarität für die wirtschaftliche Erholung erklärte Rousseff: «Unsere Erholung müsste notwendigerweise politisch sein».
Brasilien müsste als größte Volkswirtschaft Lateinamerikas eine Schlüsselrolle beim Aufbau multipolarer Institutionen spielen, und ebenso für eine Auslegung des Völkerrechts eintreten, welche die imperialen Launen der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten zurückweisen würde. Damit Brasilien diese Rolle übernehmen kann, muss der politische Block, der sich gegen Bolsonaro und die Rechte stellt, gestärkt und in ein siegreiches Wahlbündnis für die Präsidentschaftswahlen im Jahr 2022 umgewandelt werden. Nur wenn die Linke im Palácio do Planalto an die Macht zurückkehrt, kann Brasilien wieder eine Rolle beim Aufbau einer multipolaren Weltordnung spielen.
Unser Mai-Dossier The Challenges Facing Brazil’s Left («Die Herausforderungen für die brasilianische Linke») vom Brasilien-Büro des Tricontinental: Institute for Social Research geht eben diesem Thema auf den Grund. Um die Probleme und Chancen der brasilianischen Linken besser zu verstehen, befragte das Team in São Paulo fünf führende Persönlichkeiten aus dem Spektrum der brasilianischen Linken: Gleisi Hoffmann, eine Vorsitzende der Arbeiterpartei; Kelli Mafort vom nationalen Vorstand der Bewegung der landlosen Arbeiter*innen (MST); Élida Elena, Vizepräsidentin der Nationalen Studentengewerkschaft und Mitglied des Volksaufstands der Jugend (Levante Popular da Juventude); Jandyra Uehara vom nationalen Vorstand der Vereinigten Arbeiterzentrale; Juliano Medeiros, nationaler Vorsitzender der Partei Sozialismus und Freiheit (PSOL); und Valério Arcary, Mitglied des nationalen Vorstands der PSOL. Anhand dieser Gespräche zeichnet das Dossier die Entwicklung der brasilianischen Linken nach und untersucht die Instrumente, mit denen die Einheit der organisierten Teile der Linken und der Menschen, die hinter ihnen stehen, zu fördern sind. Es beleuchtet auch die Debatte darüber, ob eine breitere Anti-Bolsonaro-Front oder eine engere linke Front aufgebaut werden soll, sowie die Auswirkungen von Lulas kürzlicher Begnadigung wegen falscher Korruptionsvorwürfe und seiner wiederhergestellten Zulassung zur Kandidatur bei den nächsten Präsidentschaftswahlen.
Kürzlich veröffentlichte Umfragen zeigen, dass Lula in der ersten Runde mit 41% zu 23% vor Bolsonaro liegt; im zweiten Wahlgang besiegt Lula in jedem Szenario seine Gegner*innen (z.B. 55% zu Bolsonaros 32%). Die MST-Führerin Kelli Mafort sagt, «der Lula-Faktor übt einen enormen Einfluss auf die brasilianische Linke aus. Die Dringlichkeit der aktuellen Situation verlangt, dass er weiterhin eine Führungsrolle bei der Lösung der Probleme Brasiliens übernimmt, aber sie trägt auch dazu bei, Aktivist*innen anzuspornen, Basisarbeit zu leisten, Solidaritätsaktionen auszuweiten und sich dem faschistischen Bolsonarismus entgegenzustellen, der die Arbeiterklasse infiltriert hat». Den Bolsonarismus auszurotten setzt voraus, dass Brasilien mit Bolsonaros kriminellem Verhalten während der Pandemie abrechnet, das bereits eine Anklage wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zur Folge hatte. Die Beweise für Bolsonaros genozidale Politik wurden im Juni 2020 von Chief Raoni Metuktire von den Kayapó deutlich gemacht, der erklärte: «Präsident Bolsonaro will das Virus ausnutzen; er sagt, der Indianer muss sterben».
Maforts Punkt über die Notwendigkeit, die Basis der Schlüsselklassen aufzubauen, wird von den anderen Befragten im Dossier aufgegriffen. Sie betonen, wie wichtig es ist, die Wahl zu gewinnen, wobei es jedoch nicht nur um die Präsidentschaft, sondern auch um ein neues Projekt für Brasilien geht, für welches die Stärkung der Arbeiterklasse und der Bauernschaft grundlegend ist. Die Dimensionen dieses Projekts umfassen ein Programm für das postpandemische Brasilien ebenso wie eine unabhängige, internationalistische Außenpolitik.
Seit dem letzten Jahr haben die Vereinigten Staaten ihre politische Vormachtstellung genutzt, um einige arabische Monarchien (Marokko und die Vereinigten Arabischen Emirate) dazu zu bringen, Israel anzuerkennen, was bedeutet, die rechtmäßigen Forderungen der Palästinenser*innen außer Acht zu lassen. Dieser Prozess der Untergrabung der palästinensischen Rechte wird anhalten, solange die USA auf der Weltbühne unangefochten bleiben. Echte Multipolarität würde die USA daran hindern, Gewalt gegen Palästinenser*innen, Jemeniten*innen, Saharauis und andere anzuwenden. Eine Niederlage der herrschenden Klassen in Ländern wie Brasilien und Indien – die sich den US-Interessen unterordnen – ist unabdingbar, um die Interessen der Menschen auf der Welt, von Palästina bis Kolumbien, voranzubringen.
Im Jahr 2014, als Israel den Gazastreifen das letzte Mal mit derartig extremer Grausamkeit bombardierte, beobachtete der irakische Dichter Sinan Antoon, wie Familien aus ihren zerbombten Häusern in UN-Schulen flohen, die ebenfalls bombardiert wurden. Er vergegenwärtigt diese Bedrohung in einem Gespräch zwischen einem Kind und einem Großvater (sidu). Sie sprechen über Jaffa (heute in Israel) und machen sich Gedanken zum Recht der Palästinenser*innen auf Rückkehr, das ihnen in der Resolution 194 (1948) des UN-Sicherheitsrates zugesichert wurde.
Gehen wir zurück nach Jaffa, sidu?
Können wir nicht
Wieso?
Wir sind tot
Dann sind wir also im Himmel, sidu?
Wir sind in Palästina, habibi
und Palästina ist der Himmel
und die Hölle.
Was machen wir jetzt?
Wir warten
Worauf warten wir?
Auf die Anderen
…
bis sie zurückkommen.
Herzlichst,
Vijay
Aus dem Englischen von Claire Louise Blaser.