Schlaf jetzt, im Feuer.

Der zwanzigste Newsletter (2021).

Laila Shawa (Paläs­tina), Fati­mas Hände, 1989.

Liebe Freund*innen

 

Grüße vom Schreib­tisch des Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

Isra­els massive Kriegs­ma­schi­ne­rie greift unter komplet­ter Miss­ach­tung des Völker­rechts die besetz­ten paläs­ti­nen­si­schen Gebiete (Occu­p­ied Pales­ti­nian Terri­tory, kurz OPT) an. Da die OPT ein besetz­tes Gebiet sind, ist es dem Besat­zer – Israel – laut den Verein­ten Natio­nen nicht gestat­tet, den Charak­ter des besetz­ten Landes zu verän­dern. Das hat Israel jedoch nicht daran gehin­dert zu versu­chen, Fami­lien aus dem Jeru­sa­le­mer Stadt­teil Sheikh Jarrah zu vertrei­ben, was damit endete, dass israe­li­sche Grenz­trup­pen in die al-Aqsa-Moschee eindran­gen, gefolgt von Wellen von Luft­an­grif­fen, die täglich Tote und Verletzte fordern, deren Anzahl erst bekannt sein wird, wenn sich der Staub gelegt hat.

 

Entschei­dend ist, dass die Palästinenser*innen nicht vor dieser Verlet­zung des Völker­rechts kapi­tu­lier­ten. Sie wehr­ten sich in Jeru­sa­lem und im gesam­ten West­jor­dan­land, im Gaza­strei­fen und in den an Israel angren­zen­den Gebie­ten. Tausende von Menschen marschier­ten zur jorda­nisch-paläs­ti­nen­si­schen Grenze und zur liba­ne­sisch-paläs­ti­nen­si­schen Grenze, trotz der israe­li­schen Drohung, auf sie zu schie­ßen. Aus dem Gaza­strei­fen feuer­ten verschie­dene Grup­pie­run­gen Rake­ten ab, um Israel unter Druck zu setzen, die Gewalt in Jeru­sa­lem einzu­stel­len. Die Rake­ten aus Gaza folg­ten den gewalt­tä­ti­gen und ille­ga­len Provo­ka­tio­nen Isra­els in den OPT; diese Rake­ten waren nicht Auslö­ser für die Ereig­nisse des Mai 2021.

 

In den letz­ten fünf­zehn Jahren hat Israel den Gaza­strei­fen wieder­holt bombar­diert – 2006, 2008, 2009, 2010, 2011, 2014, 2018 und 2019. Abge­se­hen von dieser «heis­sen» Gewalt verfolgt Israel eine Poli­tik der Ersti­ckung nicht nur gegen Gaza, sondern gegen die gesam­ten OPT, eine Poli­tik der kalten Gewalt, die darauf abzielt, Palästinenser*innen soweit zu demo­ra­li­sie­ren, bis sie die OPT verlas­sen. Isra­els Ableh­nung der Ein-Staa­ten-Lösung (ein demo­kra­ti­scher Staat für Palästinenser*innen und Jüd*innen) und der Zwei-Staa­ten-Lösung (Israel und Paläs­tina) mündet statt­des­sen in eine Drei-Staa­ten-Lösung (die Palästinenser*innen nach Ägyp­ten, Jorda­nien und in den Liba­non zu vertrei­ben). Dies ist per Defi­ni­tion ethni­sche Säube­rung. Die Bombar­die­run­gen von 2021 waren beson­ders heftig, zu den Angriffs­zie­len gehör­ten Gebäude, in denen die Presse ihren Sitz hat, und Flücht­lings­la­ger. In Shateh (Gaza) star­ben bei einem Bomben­an­griff am 15. Mai zahl­rei­che Menschen. Die Fami­lie Abu Hatab verlor zehn Mitglie­der, darun­ter acht Kinder. Groteske Gewalt dieser Art kenn­zeich­net das israe­li­sche Apart­heid-Projekt zur Vernich­tung der Palästinenser*innen; Rogers Waters nennt diese Gewalt «ursprüng­li­che Verachtung».

Juhaina Habibi Kandal­aft (Paläs­tina), Jaffa, 2015.

Ange­sichts der eindeu­ti­gen Verstöße gegen das Völker­recht und der unver­hält­nis­mä­ßi­gen Gewalt der israe­li­schen Bombar­de­ments wurde allge­mein erwar­tet, dass der UN-Sicher­heits­rat einen Waffen­still­stand fordert. Doch die US-Regie­rung von Präsi­dent Joe Biden teilte den ande­ren Rats­mit­glie­dern mit, dass sie sich einer solchen Reso­lu­tion nicht anschlie­ßen werde. Die USA allein blockier­ten letzte Woche die Veröf­fent­li­chung einer Erklä­rung des Rates zur Zuspit­zung der Lage. Die USA lehn­ten zunächst auch die von Norwe­gen, Tune­sien und China vorge­schla­gene Abhal­tung einer offe­nen Sitzung am Frei­tag ab, die letzt­end­lich am Sonn­tag abge­hal­ten wurde. Deshalb dankte der israe­li­sche Premier­mi­nis­ter Benja­min Netan­jahu den Verei­nig­ten Staa­ten und 24 weite­ren Ländern für ihre Unter­stüt­zung Isra­els. Zu diesen Ländern gehört auch Brasi­lien: Dessen Präsi­dent, Jair Bolso­n­aro, sprach sich für das Recht Isra­els aus, grau­same Gewalt gegen Palästinenser*innen anzu­wen­den. Diese Aussage machte Bolso­n­aro nur wenige Tage nach dem Poli­zei­ein­satz gegen die Bevöl­ke­rung von Jaca­re­zinho in Rio de Janeiro, der zum Massa­ker an fünf­und­zwan­zig Menschen führte. Der Unter­schied zwischen Jaca­re­zinho und Gaza ist ledig­lich eine Frage des Ausma­ßes, die Bruta­li­tät ist dieselbe.

Am 15. Mai veran­stal­tete Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch and No Cold War ein Semi­nar zum Thema «China, USA und Brasi­li­ens Suche nach einer unab­hän­gi­gen Außen­po­li­tik». Die ehema­lige Präsi­den­tin Dilma Rouss­eff sprach darüber, wie die Arbei­ter­par­tei während ihrer Präsi­dent­schaft (2011–2016) – und während der Regie­rung ihres Vorgän­gers Lula da Silva (2003–2011) – den Aufbau multi­po­la­rer Insti­tu­tio­nen wie die erwei­terte G20 (2008) und das BRICS-Projekt (2009) förderte. Es seien sicher­lich keine perfek­ten Systeme, aber sie rich­ten sich auf die Schaf­fung von Platt­for­men, die den Verei­nig­ten Staa­ten nicht völlig unter­ge­ord­net sind. Beide haben ihr Poten­zial nicht ausschöp­fen können; «asym­me­tri­sche Bezie­hun­gen», sagte sie, «sind nicht gleich­be­deu­tend mit Multi­po­la­ri­tät». Die G20 lässt sich weiter­hin von den west­li­chen Mäch­ten leiten und die BRICS wurde durch den Rechts­ruck in Brasi­lien und Indien geschwächt. «Das B und das I der BRICS haben Probleme», sagte sie. «Das B wegen Bolso­n­aro». In Bezug auf die stra­te­gi­sche Notwen­dig­keit einer Rück­kehr zum Projekt der Multi­po­la­ri­tät für die wirt­schaft­li­che Erho­lung erklärte Rouss­eff: «Unsere Erho­lung müsste notwen­di­ger­weise poli­tisch sein».

Gabriela Tornai (@gabrielatornai_) / Design Ativista, Comida, direito do povo! («Essen, ein Recht der Bevöl­ke­rung!). 2021.

Brasi­lien müsste als größte Volks­wirt­schaft Latein­ame­ri­kas eine Schlüs­sel­rolle beim Aufbau multi­po­la­rer Insti­tu­tio­nen spie­len, und ebenso für eine Ausle­gung des Völker­rechts eintre­ten, welche die impe­ria­len Launen der Verei­nig­ten Staa­ten und ihrer Verbün­de­ten zurück­wei­sen würde. Damit Brasi­lien diese Rolle über­neh­men kann, muss der poli­ti­sche Block, der sich gegen Bolso­n­aro und die Rechte stellt, gestärkt und in ein sieg­rei­ches Wahl­bünd­nis für die Präsi­dent­schafts­wah­len im Jahr 2022 umge­wan­delt werden. Nur wenn die Linke im Palá­cio do Planalto an die Macht zurück­kehrt, kann Brasi­lien wieder eine Rolle beim Aufbau einer multi­po­la­ren Welt­ord­nung spielen.

 

Unser Mai-Dossier The Chal­lenges Facing Brazil’s Left («Die Heraus­for­de­run­gen für die brasi­lia­ni­sche Linke») vom Brasi­lien-Büro des Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch geht eben diesem Thema auf den Grund. Um die Probleme und Chan­cen der brasi­lia­ni­schen Linken besser zu verste­hen, befragte das Team in São Paulo fünf führende Persön­lich­kei­ten aus dem Spek­trum der brasi­lia­ni­schen Linken: Gleisi Hoff­mann, eine Vorsit­zende der Arbei­ter­par­tei; Kelli Mafort vom natio­na­len Vorstand der Bewe­gung der land­lo­sen Arbeiter*innen (MST); Élida Elena, Vize­prä­si­den­tin der Natio­na­len Studen­ten­ge­werk­schaft und Mitglied des Volks­auf­stands der Jugend (Levante Popu­lar da Juventude); Jandyra Uehara vom natio­na­len Vorstand der Verei­nig­ten Arbei­ter­zen­trale; Juliano Medei­ros, natio­na­ler Vorsit­zen­der der Partei Sozia­lis­mus und Frei­heit (PSOL); und Valé­rio Arcary, Mitglied des natio­na­len Vorstands der PSOL. Anhand dieser Gesprä­che zeich­net das Dossier die Entwick­lung der brasi­lia­ni­schen Linken nach und unter­sucht die Instru­mente, mit denen die Einheit der orga­ni­sier­ten Teile der Linken und der Menschen, die hinter ihnen stehen, zu fördern sind. Es beleuch­tet auch die Debatte darüber, ob eine brei­tere Anti-Bolso­n­aro-Front oder eine engere linke Front aufge­baut werden soll, sowie die Auswir­kun­gen von Lulas kürz­li­cher Begna­di­gung wegen falscher Korrup­ti­ons­vor­würfe und seiner wieder­her­ge­stell­ten Zulas­sung zur Kandi­da­tur bei den nächs­ten Präsidentschaftswahlen.

Cris­tiano Siqueira (@crisvector) / Design Ativista, Aten­ção, novo sent­ido («Achtung, neue Rich­tung»), 2019.

Kürz­lich veröf­fent­lichte Umfra­gen zeigen, dass Lula in der ersten Runde mit 41% zu 23% vor Bolso­n­aro liegt; im zwei­ten Wahl­gang besiegt Lula in jedem Szena­rio seine Gegner*innen (z.B. 55% zu Bolso­n­a­ros 32%). Die MST-Führe­rin Kelli Mafort sagt, «der Lula-Faktor übt einen enor­men Einfluss auf die brasi­lia­ni­sche Linke aus. Die Dring­lich­keit der aktu­el­len Situa­tion verlangt, dass er weiter­hin eine Führungs­rolle bei der Lösung der Probleme Brasi­li­ens über­nimmt, aber sie trägt auch dazu bei, Aktivist*innen anzu­spor­nen, Basis­ar­beit zu leis­ten, Soli­da­ri­täts­ak­tio­nen auszu­wei­ten und sich dem faschis­ti­schen Bolso­na­ris­mus entge­gen­zu­stel­len, der die Arbei­ter­klasse infil­triert hat». Den Bolso­na­ris­mus auszu­rot­ten setzt voraus, dass Brasi­lien mit Bolso­n­a­ros krimi­nel­lem Verhal­ten während der Pande­mie abrech­net, das bereits eine Anklage wegen Verbre­chen gegen die Mensch­lich­keit vor dem Inter­na­tio­na­len Straf­ge­richts­hof in Den Haag zur Folge hatte. Die Beweise für Bolso­n­a­ros geno­zi­dale Poli­tik wurden im Juni 2020 von Chief Raoni Metuk­tire von den Kayapó deut­lich gemacht, der erklärte: «Präsi­dent Bolso­n­aro will das Virus ausnut­zen; er sagt, der India­ner muss sterben».

 

Maforts Punkt über die Notwen­dig­keit, die Basis der Schlüs­sel­klas­sen aufzu­bauen, wird von den ande­ren Befrag­ten im Dossier aufge­grif­fen. Sie beto­nen, wie wich­tig es ist, die Wahl zu gewin­nen, wobei es jedoch nicht nur um die Präsi­dent­schaft, sondern auch um ein neues Projekt für Brasi­lien geht, für welches die Stär­kung der Arbei­ter­klasse und der Bauern­schaft grund­le­gend ist. Die Dimen­sio­nen dieses Projekts umfas­sen ein Programm für das post­pan­de­mi­sche Brasi­lien ebenso wie eine unab­hän­gige, inter­na­tio­na­lis­ti­sche Außenpolitik.

Letí­cia Ribeiro (@telurica.x), Bild von Giovanni Marroz­zini / Design Ativista, Guar­diãs («Hüte­rin­nen»), 2019.

Seit dem letz­ten Jahr haben die Verei­nig­ten Staa­ten ihre poli­ti­sche Vormacht­stel­lung genutzt, um einige arabi­sche Monar­chien (Marokko und die Verei­nig­ten Arabi­schen Emirate) dazu zu brin­gen, Israel anzu­er­ken­nen, was bedeu­tet, die recht­mä­ßi­gen Forde­run­gen der Palästinenser*innen außer Acht zu lassen. Dieser Prozess der Unter­gra­bung der paläs­ti­nen­si­schen Rechte wird anhal­ten, solange die USA auf der Welt­bühne unan­ge­foch­ten blei­ben. Echte Multi­po­la­ri­tät würde die USA daran hindern, Gewalt gegen Palästinenser*innen, Jemeniten*innen, Saha­r­auis und andere anzu­wen­den. Eine Nieder­lage der herr­schen­den Klas­sen in Ländern wie Brasi­lien und Indien – die sich den US-Inter­es­sen unter­ord­nen – ist unab­ding­bar, um die Inter­es­sen der Menschen auf der Welt, von Paläs­tina bis Kolum­bien, voranzubringen.

 

 

Im Jahr 2014, als Israel den Gaza­strei­fen das letzte Mal mit derar­tig extre­mer Grau­sam­keit bombar­dierte, beob­ach­tete der iraki­sche Dich­ter Sinan Antoon, wie Fami­lien aus ihren zerbomb­ten Häusern in UN-Schu­len flohen, die eben­falls bombar­diert wurden. Er verge­gen­wär­tigt diese Bedro­hung in einem Gespräch zwischen einem Kind und einem Groß­va­ter (sidu). Sie spre­chen über Jaffa (heute in Israel) und machen sich Gedan­ken zum Recht der Palästinenser*innen auf Rück­kehr, das ihnen in der Reso­lu­tion 194 (1948) des UN-Sicher­heits­ra­tes zuge­si­chert wurde.

 

Gehen wir zurück nach Jaffa, sidu?
Können wir nicht

Wieso?

Wir sind tot

Dann sind wir also im Himmel, sidu?

Wir sind in Paläs­tina, habibi

und Paläs­tina ist der Himmel

und die Hölle.

Was machen wir jetzt?

Wir warten

Worauf warten wir?

Auf die Anderen

bis sie zurückkommen.



Herz­lichst,

 

Vijay

Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.