Der Sozialismus ist kein utopisches Ideal, sondern eine realisierbare Notwendigkeit.

Der erste Newsletter (2023).

Philip Guston (Kanada), Gladia­to­ren, 1940.

Liebe Freund*innen,

 

Neujahrs­grüße aus dem Büro von Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

Im Mai 2021 schrie­ben die Exeku­tiv­di­rek­to­rin von UN Women, Phum­zile Mlambo-Ngcuka, und die Hohe Vertre­te­rin der UN für Abrüs­tungs­fra­gen, Izumi Naka­mitsu, einen Arti­kel, in dem sie die Regie­run­gen auffor­der­ten, die exzes­si­ven Mili­tär­aus­ga­ben zu kürzen und statt­des­sen die Ausga­ben für soziale und wirt­schaft­li­che Entwick­lung zu erhö­hen. Ihre weisen Worte fanden kein Gehör. Die Kürzung der Kriegs­aus­ga­ben und die Aufsto­ckung der Mittel für die soziale Entwick­lung, so schrie­ben sie, sei «kein utopi­sches Ideal, sondern eine reali­sier­bare Notwen­dig­keit». Diese Formu­lie­rung – kein utopi­sches Ideal, sondern eine reali­sier­bare Notwen­dig­keit – ist grund­le­gend. Sie beschreibt das Projekt des Sozia­lis­mus nahezu perfekt.

 

Unser Insti­tut arbei­tet seit mehr als fünf Jahren, gelei­tet von der Idee, dass es möglich ist, die Welt so umzu­ge­stal­ten, dass sie den Bedürf­nis­sen der Mensch­heit entspricht und gleich­zei­tig inner­halb der Gren­zen der Natur exis­tiert. Wir haben soziale und poli­ti­sche Bewe­gun­gen beglei­tet, ihren Theo­rien zuge­hört, ihre Arbeit beob­ach­tet und auf der Grund­lage dieser Bemü­hun­gen für eine Verän­de­rung der Welt unser eige­nes Verständ­nis dieser Welt entwi­ckelt. Dieser Prozess war sehr aufschluss­reich. Er hat uns gelehrt, dass es nicht ausreicht, eine Theo­rie aus älte­ren Theo­rien abzu­lei­ten, sondern es notwen­dig ist, sich auf die Welt einzu­las­sen, anzu­er­ken­nen, dass dieje­ni­gen, die die Welt zu verän­dern suchen, dieje­ni­gen sind, die die Bausteine eines solchen Welt­ver­ständ­nis­ses erschaf­fen, und dass unsere Aufgabe – als Forschende des Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch – darin besteht, diese Teile zu einem Welt­bild zusam­men­zu­fü­gen. Die Welt­an­schau­ung, die wir entwi­ckeln, begreift nicht nur die Welt, wie sie ist, sondern greift die Dyna­mik auf, die eine Welt hervor­bringt, wie sie sein sollte.

 

Marcelo Pogo­lotti (Kuba), Siglo XX o Regalo a la quer­ida, 1933.

 

Unser Insti­tut hat es sich zur Aufgabe gemacht, der Dyna­mik der sozia­len Tran­szen­denz auf die Spur zu kommen und heraus­zu­fin­den, wie wir aus einem Welt­sys­tem ausstei­gen können, das uns in die Vernich­tung und Auslö­schung treibt. Es gibt genü­gend Antwor­ten, die bereits jetzt in der Welt exis­tie­ren, die bereits bei uns sind, auch wenn eine soziale Trans­for­ma­tion unmög­lich erscheint. Der gesamte gesell­schaft­li­che Reich­tum auf dem Plane­ten ist außer­or­dent­lich, obwohl dieser Reich­tum – aufgrund der langen Geschichte von Kolo­nia­lis­mus und Gewalt – einfach nicht genutzt wird, um Lösun­gen für die gemein­sa­men Probleme zu finden, sondern um das Vermö­gen eini­ger weni­ger zu vermeh­ren. Es gibt zum Beispiel genug Nahrungs­mit­tel, um alle Menschen auf der Erde zu ernäh­ren, und dennoch hungern Milli­ar­den von Menschen. Es gibt keinen Grund, ange­sichts dieser Reali­tät naiv zu sein, und es gibt auch keinen Grund, sich hilf­los zu fühlen.

 

In einem unse­rer ersten News­let­ter, mit dem wir das erste Jahr unse­rer Arbeit (2018) abschlos­sen, schrie­ben wir, dass «es einfa­cher ist, sich das Ende der Welt vorzu­stel­len als das Ende des Kapi­ta­lis­mus, einfa­cher, sich vorzu­stel­len, dass die schmel­zen­den Pole uns über­flu­ten, als sich eine Welt vorzu­stel­len, in der unsere Produk­ti­ons­ka­pa­zi­tät uns alle berei­chert». Das ist nach wie vor wahr. Und dennoch gibt es «eine mögli­che Zukunft, die so gestal­tet ist, dass sie den Hoff­nun­gen der Menschen gerecht wird. … Es ist grau­sam, diese Hoff­nun­gen als naiv zu bezeichnen».

 

Die Probleme, mit denen wir konfron­tiert sind, sind nicht auf einen Mangel an Ressour­cen oder an tech­no­lo­gi­schem und wissen­schaft­li­chem Know-how zurück­zu­füh­ren. Wir vom Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch sind der Meinung, dass es am Gesell­schafts­sys­tem des Kapi­ta­lis­mus liegt, dass wir nicht in der Lage sind, unsere gemein­sa­men Probleme zu über­win­den. Dieses System hemmt die Vorwärts­be­we­gung, die die Demo­kra­ti­sie­rung der Natio­nen und die Demo­kra­ti­sie­rung des gesell­schaft­li­chen Reich­tums erfor­dert. Es gibt Hunderte von Millio­nen Menschen, die in poli­ti­schen und sozia­len Forma­tio­nen orga­ni­siert sind, die gegen die Gated Commu­ni­ties in unse­rer Welt vorge­hen, die dafür kämp­fen, die Barrie­ren nieder­zu­rei­ßen und die Utopien aufzu­bauen, die wir zum Über­le­ben brau­chen. Doch anstatt anzu­er­ken­nen, dass diese Forma­tio­nen versu­chen, echte Demo­kra­tie zu verwirk­li­chen, werden sie krimi­na­li­siert, ihre Anführer*innen verhaf­tet und ermor­det und ihr  wert­vol­les sozia­les Enga­ge­ment wird zerstört. Ähnlich repres­siv werden natio­nale Projekte behan­delt, die in solchen poli­ti­schen und sozia­len Bewe­gun­gen wurzeln, Projekte, die sich dafür einset­zen, den gesell­schaft­li­chen Reich­tum für das höchste Gut zu nutzen. Putsche, Atten­tate und Sank­ti­ons­re­gime sind Routine, ihre Häufig­keit wird durch eine nicht enden wollende Reihe an Ereig­nis­sen illus­triert, vom Putsch in Peru im Dezem­ber 2022 bis zur anhal­ten­den Blockade Kubas, und durch die Leug­nung, dass solche Gewalt einge­setzt wird, um sozia­len Fort­schritt zu blockieren.

 

Renato Guttuso (Italien), May 1968, 1968.

 

In seiner Einfüh­rung in die Philo­so­phie schrieb der deut­sche marxis­ti­sche Philo­soph Ernst Bloch 1997: «Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Und nur dadurch werden wir». Dies ist eine inter­es­sante Aussage. Bloch formu­liert René Descar­tes’ «Ich denke, also bin ich» neu, einen idea­lis­ti­schen Satz. Bloch bejaht die Exis­tenz («Ich bin»), weist aber darauf hin, dass die mensch­li­che Exis­tenz aufgrund von Formen der Entfrem­dung und Einsam­keit nicht gedeiht («Aber ich habe mich nicht»). Das «Ich» – das atomi­sierte, frag­men­tierte und einsame Indi­vi­duum – hat nicht die Fähig­keit, die Welt allein zu verän­dern. Der Aufbau eines Prozes­ses zur sozia­len Tran­szen­denz erfor­dert die Schaf­fung eines kollek­ti­ven «Wir». Dieses Kollek­tiv ist die subjek­tive Kraft, die sich selbst stär­ken muss, um die Wider­sprü­che zu über­win­den, die dem mensch­li­chen Fort­schritt im Wege stehen. «Mensch zu sein bedeu­tet in Wirk­lich­keit, eine Utopie zu haben», schrieb Bloch. Dieser Satz berührt mich zutiefst, und ich hoffe, dass er auch euch berührt.

 

Im neuen Jahr werden wir von Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch ausführ­lich über die Wege zum Sozia­lis­mus und die Barri­ka­den nach­den­ken, die Milli­ar­den von Menschen auf der Welt daran hindern, über ein System hinaus­zu­wach­sen, das ihre soziale Arbeit ausbeu­tet und Größe verspricht, während es ihnen nur das abso­lute Mini­mum an Lebens­mög­lich­kei­ten bietet. Wir gehen in dieses neue Jahr mit einem erneu­er­ten Enga­ge­ment für das einfa­che Postu­lat, dass der Sozia­lis­mus eine reali­sier­bare Notwen­dig­keit ist.

 

Milan Chovanec (Tsche­cho­slo­wa­kei), Peace, 1978.

 

Zu Beginn des neuen Jahres möchte ich allen Mitar­bei­tern des Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch meinen Dank ausspre­chen, einem Team, das über den ganzen Globus verteilt ist, von Buenos Aires bis Shang­hai, von Trivan­drum bis Rabat. Wenn ihr unsere Arbeit unter­stüt­zen möch­tet, denkt bitte daran, dass Spen­den immer will­kom­men sind. 

 

Wir bitten euch drin­gend, unsere Mate­ria­lien so weit wie möglich zu verbrei­ten, sie in euren Bewe­gun­gen zu studie­ren und Mitglie­der unse­res Teams einzu­la­den, über unsere Arbeit zu sprechen.

 

Herz­lichst,

 

Vijay

Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.