Die Arbeit von Tricontinental.

Der neunzehnte Newsletter (2023).

Liebe Freund*innen,

 

Grüße aus dem Büro von Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Research.

 

Ich bedanke mich bei euch für die Lektüre dieses News­let­ters, der euch seit März 2018 erreicht und der nun – dank der Bemü­hun­gen unse­rer Bewe­gun­gen – mehr als eine Million Menschen erreicht. In unse­rem ersten News­let­ter wurde ein Problem ange­spro­chen, das nach wie vor im Mittel­punkt der Arbeit unse­res Insti­tuts steht:

 

Die Linke steht vor einer großen Heraus­for­de­rung: Die Leute denken, dass wir gute und sensi­ble Menschen sind, aber dass wir utopisch sind und keine vernünf­ti­gen Antwor­ten auf prak­ti­sche Probleme geben können. Diese Hürde müssen wir über­win­den. Wir müssen zeigen, dass radi­ka­les Denken nicht ledig­lich utopisch ist (und in der Reali­tät keinen Platz hat), sondern dass es versucht, prak­ti­sche Heraus­for­de­run­gen ange­sichts der Beschrän­kun­gen von Eigen­tum und Macht zu lösen. Es muss vor allem aufzei­gen, dass bestimmte Probleme nicht inner­halb dieser Zwänge gelöst werden können und ehrgei­zi­gere Umge­stal­tun­gen des poli­ti­schen und wirt­schaft­li­chen Systems erfor­dern. Diese Art des Denkens – gelei­tet von poli­ti­schen und sozia­len Bewe­gun­gen – steht im Mittel­punkt des Instituts.

 

In den vergan­ge­nen zwei­und­sech­zig Mona­ten haben wir unser Bestes getan, um dieser Mission gerecht zu werden. Zu diesem Zweck haben wir uns eine Reihe von Zielen gesetzt:

 

      1. Die Kluft zwischen Bewe­gun­gen und intel­lek­tu­el­len Insti­tu­tio­nen zu überbrücken.
      2. Die Kluft zwischen auf der ganzen Welt verteil­ten Bewe­gun­gen  zu überbrücken.
      3. Die Stim­men der neuen Intel­lek­tu­el­len, die diese Bewe­gun­gen anfüh­ren, zu stärken.
      4. Die Theo­rien, die in diesen Bewe­gun­gen oft impli­zit enthal­ten sind, auszuarbeiten.
      5.  Die Geschichte des Sozia­lis­mus und der natio­na­len Befrei­ung zurückzugewinnen.

Diese Ziele bilden die Grund­lage unse­rer Arbeit. Wir hoffen, dass das, was wir recher­chiert und produ­ziert haben, für dieje­ni­gen von Nutzen ist, die sich für die Stär­kung unse­rer Bewe­gun­gen und den Fort­schritt hin zu einer ratio­na­le­ren Gesell­schafts­ord­nung einsetzen.

 

 

In den letz­ten Jahren sind wir zuneh­mend beun­ru­higt über die erns­ten Span­nun­gen, die der Welt aufge­zwun­gen wurden, vor allem durch die Regie­rung der Verei­nig­ten Staa­ten, die einen neuen Kalten Krieg gegen China führt. Dieser hybride Krieg umfasst einen Handels­krieg, der mit einer zuneh­men­den Mili­ta­ri­sie­rung der USA im gesam­ten pazi­fi­schen Raum einher­geht, sowie einen Infor­ma­ti­ons­krieg, der China dämo­ni­siert und eine virtu­elle Blockade des chine­si­schen Gedan­ken­guts aufer­legt. Als Forschungs­in­sti­tut, das sich für die Förde­rung der globa­len Zusam­men­ar­beit einsetzt, haben wir einen Dialog mit chine­si­schen Intel­lek­tu­el­len und akade­mi­schen Einrich­tun­gen aufge­nom­men. Eines der Ergeb­nisse dieses Dialogs, das wir im März 2023 ankün­dig­ten, ist die vier­tel­jähr­li­che Heraus­gabe einer inter­na­tio­na­len Ausgabe der wich­ti­gen chine­si­schen Intel­lek­tu­el­len­zeit­schrift Wenhua Zongh­eng (文化纵横) auf Englisch, Portu­gie­sisch und Spanisch (und bald auch auf Deutsch). In der ersten Ausgabe, On the Tres­hold of an New Inter­na­tio­nal Order, schreibt Yang Ping, der Heraus­ge­ber der chine­si­schen Ausgabe von Wenhua Zongh­eng:

 

Während die Verei­nig­ten Staa­ten heute das west­li­che Lager unter dem Banner «Demo­kra­tie gegen Auto­ri­ta­ris­mus» zusam­men­trom­melt, ist es Chinas Aufgabe,  unmiss­ver­ständ­lich die Fahne des Frie­dens und der Entwick­lung hoch­zu­hal­ten, die riesige Entwick­lungs­welt zu verei­nen und anzu­füh­ren und gleich­zei­tig mehr euro­päi­sche Staa­ten anzu­spre­chen und zu über­zeu­gen, sich dieser Sache anzuschließen.

 

Yang Pings Sicht auf unsere heutige Reali­tät bietet den Leser*innen einen Einblick in die Diskus­sio­nen, die unter den chine­si­schen Intel­lek­tu­el­len statt­fin­den, und gibt uns, die wir nicht in China leben, die Möglich­keit, uns an diesen Diskus­sio­nen zu betei­li­gen. Die Lektüre der vier Aufsätze in dieser Ausgabe hat mir zum Beispiel gezeigt, wie viel wir außer­halb Chinas mit den chine­si­schen Intel­lek­tu­el­len gemein­sam haben bei unse­ren Analy­sen der aktu­el­len Bedro­hun­gen, denen unser Planet ausge­setzt ist, und der Notwen­dig­keit, nicht nur einen Frie­dens­plan – den die chine­si­sche Regie­rung mit ihrem 12-Punkte-Plan zum Krieg in der Ukraine vorge­schla­gen hat –, sondern auch eine Entwick­lungs­agenda zu verfol­gen. Es lohnt sich, die Grund­aus­rich­tung der ersten inter­na­tio­na­len Ausgabe von Wenhua Zongh­eng mit Eight Contra­dic­tions of the Impe­ria­list ‘Rules Based Order (Nr. 3 der Reihe «Studies on Contem­po­rary Dilem­mas» , März 2023) zu verglei­chen, in der wir über die Notwen­dig­keit schrie­ben, Frie­den und Entwick­lung mitein­an­der zu verbin­den, was die Auswei­tung einer «Frie­dens­zone» und die Ausein­an­der­set­zung mit den Alltags­pro­ble­men der Menschen erfor­dern würde.

 

Detail von: Sheng­tian Zheng und Jinbo Sun, Winds of Fusang, 2017.

 

In Eight Contra­dic­tions schrie­ben wir, dass «das kapi­ta­lis­ti­sche Entwick­lungs­mo­dell den Inter­es­sen der Mehr­heit nicht gerecht wird». In unse­rem jüngs­ten Dossier Nr. 63 (April 2023), Life or Debt: The Strang­le­hold of Neoco­lo­nia­lism and Africa’s Search for Alter­na­ti­ves («Leben oder Schul­den: Der Würge­griff des Neoko­lo­nia­lis­mus und Afri­kas Suche nach Alter­na­ti­ven»), haben wir das Schei­tern des Schul­den-Austeri­täts­mo­dells des Inter­na­tio­na­len Währungs­fonds doku­men­tiert. Dieses Modell leug­net den histo­ri­schen Dieb­stahl von Ressour­cen aus Entwick­lungs­län­dern und lehnt jede Analyse ab, die die Repro­duk­tion der Ungleich­heit in diesen Ländern auf hohe Ausbeu­tungs­ra­ten zurück­führt. Ganz im Gegen­teil: Die Kredite, die den finanz­schwa­chen Entwick­lungs­län­dern ange­bo­ten werden, sind an Bedin­gun­gen geknüpft, die diese Länder weiter verar­men lassen, sodass sie keine andere Wahl haben, als sich mehr Geld zu leihen, um die Zinsen für ihre Schul­den zu bezah­len und die notwen­digs­ten staat­li­chen Aufga­ben zu finan­zie­ren. Im zwei­ten Jahr der Pande­mie (2021) verlang­ten drei­zehn der fünf­zehn IWF-Kredit­pro­gramme von den kredit­auf­neh­men­den Ländern, dass sie Steu­ern auf Lebens­mit­tel und Brenn­stoffe erhe­ben und lebens­wich­tige öffent­li­che Dienst­leis­tun­gen kürzen, um ihre Schul­den zu bedie­nen. Im darauf­fol­gen­den Jahr kündigte China an, auf drei­und­zwan­zig zins­lose Darle­hen zu verzich­ten, die es sieb­zehn afri­ka­ni­schen Ländern gewährt hatte. Diese Entschei­dung spie­gelt einen lang­fris­ti­gen Trend in Chinas Kredit­ma­nage­ment wider, da das Land in den letz­ten zwei Jahr­zehn­ten schät­zungs­weise zwischen 45 und 610 Millio­nen Dollar an Kredi­ten an den Konti­nent erlas­sen hat.

 

Im Juli wird unser Insti­tut ein Dossier über die Notwen­dig­keit eines neuen entwick­lungs­theo­re­ti­schen Para­dig­mas und im August ein weite­res Dossier mit einer Kritik der Depen­denz­theo­rie veröf­fent­li­chen. Beide Texte werden unsere Über­le­gun­gen über das Schei­tern des kapi­ta­lis­ti­schen Modells, sich in den Dienst der Inter­es­sen der Mehr­heit zu stel­len und über die Notwen­dig­keit einer neuen Entwick­lungs­ar­chi­tek­tur voran­trei­ben, die eine Ausein­an­der­set­zung mit den allge­mei­nen poli­ti­schen Ansät­zen der Neuen (BRICS) Entwick­lungs­bank beinhaltet.

 

Inji Effal­toun (Ägyp­ten), The Prisoners, 1957.

 

Bei Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch haben wir die sich auswei­tende, vom IWF verur­sachte Schul­den­krise, die die Idee der «Entwick­lungs­fi­nan­zie­rung» in eine «Finan­zie­rung zum Schul­den­dienst» umge­wan­delt hat, genau beob­ach­tet. Die finan­zi­elle Verschul­dung ist jedoch nur eines von mindes­tens drei großen Defi­zi­ten, mit denen der Globale Süden derzeit zu kämp­fen hat. Die beiden ande­ren sind Defi­zite in Wissen­schaft und Tech­no­lo­gie sowie poli­ti­sche Integrität.

 

Was Wissen­schaft und Tech­no­lo­gie angeht, so hat die vom IWF betrie­bene Spar­po­li­tik in den meis­ten ärme­ren Ländern zur Aushöh­lung der Hoch­schul­bil­dung geführt. In Nepal beispiels­weise hat der IWF die Regie­rung routi­ne­mä­ßig aufge­for­dert, die Löhne und Gehäl­ter im öffent­li­chen Dienst einzu­frie­ren, was zu einem kata­stro­pha­len Rück­gang der Zahl der Vollzeitlehrer*innen und einem Anstieg der prekär beschäf­tig­ten Lehrer*innen geführt hat. Da die Sekun­dar­schu­len und Univer­si­tä­ten unter den Spar­maß­nah­men leiden, sinkt die Fähig­keit der Staa­ten, ihre Jugend auszu­bil­den, und damit auch die Fähig­keit, ihre wissen­schaft­li­chen und tech­no­lo­gi­schen Kapa­zi­tä­ten aufzu­bauen. Dieses Defi­zit erhöht ihre Abhän­gig­keit von auslän­di­schen Staa­ten und Unter­neh­men, wenn es um die zur Stei­ge­rung ihrer Produk­ti­vi­tät erfor­der­li­chen tech­no­lo­gi­schen Inputs geht. Da die ärme­ren Länder nicht in der Lage sind, einen eige­nen Wissen­schafts- und Tech­no­lo­gie­sek­tor aufzu­bauen, sind sie nicht in der Lage, die inlän­di­sche Produk­tion voran­zu­trei­ben, und haben Schwie­rig­kei­ten, Devi­sen zu verdie­nen, da sie nur in der Lage sind, Primär­gü­ter zu nied­ri­ge­ren Prei­sen auf den inter­na­tio­na­len Markt zu expor­tie­ren. Wie die UNESCO fest­stellt, leben in den afri­ka­ni­schen Ländern südlich der Sahara 14 % der Welt­be­völ­ke­rung, aber nur 0,7 % der welt­wei­ten Forscher*innen (Stand 2018) – weit weni­ger als in ande­ren Teilen der Welt. Zum Vergleich: 23,5 % der Forscher*innen welt­weit kommen aus der Euro­päi­schen Union, 21,1 % aus China und 16,2 % aus den Verei­nig­ten Staa­ten. Am Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch arbei­ten wir an einer Forschungs­agenda, um den Charak­ter dieses Wissen­schafts- und Tech­no­lo­gie­de­fi­zits besser zu verste­hen und heraus­zu­fin­den, wie dieses Defi­zit über­wun­den werden kann.

 

Das dritte große Defi­zit ist schwer zu defi­nie­ren, aber bezeich­nen wir es vorerst als Defi­zit an poli­ti­scher Inte­gri­tät. Den meis­ten Ländern des Globa­len Südens fehlt es einfach an den poli­ti­schen und admi­nis­tra­ti­ven Kapa­zi­tä­ten, um die Bezie­hun­gen zu auslän­di­schen Regie­run­gen und Unter­neh­men zu verwal­ten. Darüber hinaus gibt es eine sehr dürf­tige Analyse dessen, was meist als «Korrup­tion» bezeich­net wird, bei der die nied­ri­gen Löhne, die an öffent­li­che Ange­stellte gezahlt werden, und das Fehlen eines mora­li­schen poli­ti­schen Projekts für diese Ange­stell­ten außer Acht gelas­sen werden. Wie wir im Dossier Nr. 63 schrei­ben, gehen wir davon aus, «dass die perma­nente Schul­den­krise, die die ärme­ren Länder heim­sucht, … nicht ausschließ­lich eine Folge der Miss­wirt­schaft der Regie­run­gen oder der tief verwur­zel­ten Korrup­tion ist». Nichts­des­to­trotz wird der Begriff der Korrup­tion als Schlag­stock gegen die armen Länder verwen­det, ohne dass man sich der inter­na­li­sier­ten Trans­ak­ti­ons­kos­ten in den reiche­ren Staa­ten bewusst ist (wo riesige poli­ti­sche Spen­den von Unter­neh­men der perso­nelle Abtausch zwischen hoch­ran­gi­gen Regie­rungs­po­si­tio­nen und Stell­ten in der Privat­wirt­schaft oft als Ersatz für offene Bestechungs­gel­der fungie­ren). Im nächs­ten Jahr werden wir eine Bewer­tung der Debatte über die Inte­gri­tät der öffent­li­chen Insti­tu­tio­nen vornehmen.

 

Tadesse Mesfin (Äthio­pien), Pillars of Life: Market Day, 2018.

 

In einem späte­ren News­let­ter werde ich unsere Arbeit an Studien über die Arbei­ter­klasse und die Bauern­schaft beschrei­ben, ein Projekt, das sich auch mit dem Angriff auf die Arbei­ter­klas­sen­kul­tur durch Mafias, reli­giöse Orga­ni­sa­tio­nen und Drogen sowie durch die Eska­la­tion der gesell­schaft­li­chen Mili­ta­ri­sie­rung befasst. Aber das ist ein Thema für einen ande­ren Tag.

 

Wenn ihr unser Insti­tut unter­stüt­zen möch­ten, könnt ihr dies hier tun.

 

Herz­lichst,

 

Vijay

Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.