In einer Welt der großen Unordnung und extravaganten Lügen suchen wir nach Mitgefühl.
Der neunzehnte Newsletter (2022).
Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro von Tricontinental: Institute for Social Research.
Es sind zutiefst beunruhigende Zeiten. Die globale Pandemie COVID-19 hatte das Potenzial, Menschen zusammenzubringen, globale Institutionen wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu stärken und neues Vertrauen in das öffentliche Handeln zu wecken. Unser enormer gesellschaftlicher Reichtum hätte für die Verbesserung der öffentlichen Gesundheitssysteme eingesetzt werden können, einschließlich der Überwachung von Krankheitsausbrüchen und der Entwicklung medizinischer Systeme zur Behandlung von Menschen während dieser Ausbrüche. Dem ist nicht so.
Studien der WHO haben gezeigt, dass die Ausgaben der Regierungen in den ärmeren Ländern für die Gesundheitsversorgung während der Pandemie relativ gleich geblieben sind, während die privaten Ausgaben für die Gesundheitsversorgung weiter steigen. Seit der Ausrufung der Pandemie im März 2020 haben viele Regierungen mit außergewöhnlichen Haushaltszuweisungen reagiert; allerdings erhielt der Gesundheitssektor in allen Ländern, von den reicheren bis zu den ärmeren, nur «einen relativ kleinen Teil», während der Großteil der Ausgaben für die Rettung multinationaler Unternehmen und Banken sowie für die soziale Unterstützung der Bevölkerung verwendet wurde.
Im Jahr 2020 kostete die Pandemie das globale Bruttoinlandsprodukt schätzungsweise 4 Billionen Dollar. Nach Angaben der WHO wird der «Finanzbedarf … für die Vorbereitung auf die Epidemie auf etwa 150 Milliarden US-Dollar pro Jahr geschätzt». Mit anderen Worten: Jährliche Ausgaben in Höhe von 150 Milliarden Dollar könnten die nächste Pandemie mit ihren wirtschaftlichen Kosten in Höhe von mehreren Billionen Dollar und unermesslichem Leid wahrscheinlich verhindern. Aber diese Art von sozialer Investition ist heutzutage einfach nicht zu stemmen. Das ist ein Teil dessen, was unsere Zeit so beunruhigend macht.
Am 5. Mai veröffentlichte die WHO ihre Erkenntnisse über die durch die COVID-19-Pandemie verursachten zusätzlichen Todesfälle. Die WHO schätzt diese Zahl für den Zeitraum von 24 Monaten in den Jahren 2020 und 2021 auf 14,9 Millionen. Ein Drittel dieser Todesfälle (4,7 Millionen) soll in Indien zu beklagen sein; das ist das Zehnfache der offiziellen Zahl, die von der Regierung von Premierminister Narendra Modi veröffentlicht wurde, die die Zahlen der WHO bestreitet. Man sollte meinen, dass diese erschütternden Zahlen – fast 15 Millionen Tote weltweit in dem Zweijahreszeitraum – ausreichen würden, um den Willen zum Wiederaufbau der erschöpften öffentlichen Gesundheitssysteme zu stärken. Dem ist nicht so.
Laut einer Studie zur globalen Gesundheitsfinanzierung stieg die Entwicklungshilfe für Gesundheit (DAH) zwischen 2019 und 2020 um 35,7 Prozent. Das entspricht 13,7 Mrd. USD an DAH, was weit unter den prognostizierten 33 bis 62 Mrd. USD liegt, die zur Bekämpfung der Pandemie erforderlich sind. Während die DAH-Mittel in der Zeit der Pandemie in COVID-19-Projekte flossen, gingen sie in verschiedenen wichtigen Gesundheitssektoren zurück (Malaria um 2,2 Prozent, HIV/AIDS um 3,4 Prozent, Tuberkulose um 5,5 Prozent, reproduktive Gesundheit und Müttergesundheit um 6,8 Prozent), was dem globalen Muster entspricht. Bei den Ausgaben für COVID-19 gab es auch einige auffällige geografische Unterschiede: Die Karibik und Lateinamerika erhielten nur 5,2 Prozent der DAH-Mittel, obwohl sie 28,7 Prozent der weltweit gemeldeten COVID-19-Todesfälle aufwiesen.
Während die indische Regierung damit beschäftigt ist, die COVID-19-Todesfälle bei der WHO anzufechten, konzentriert sich die Regierung von Kerala – unter der Führung der Linken Demokratischen Front – darauf, den öffentlichen Gesundheitssektor mit allen Mitteln zu verbessern. Kerala mit seinen fast 35 Millionen Einwohner*innen ist unter den achtundzwanzig indischen Bundesstaaten regelmäßig Spitzenreiter bei den Gesundheitsindikatoren des Landes. Die Regierung der Demokratischen Linksfront in Kerala konnte die Pandemie in den Griff bekommen, weil sie solide öffentliche Investitionen in die Gesundheitseinrichtungen getätigt hat, weil die Maßnahmen von dynamischen sozialen Bewegungen angeführt wurden, die mit der Regierung verbunden sind, und weil sie eine Politik der sozialen Eingliederung verfolgt, die die Hierarchien der Kaste und des Patriarchats, die soziale Minderheiten ansonsten von öffentlichen Einrichtungen isolieren, auf ein Minimum reduziert hat.
Als die Linke Demokratische Front 2016 die Führung des Staates übernahm, begann sie mit der Verbesserung des ausgelaugten öffentliche Gesundheitssystems. Die 2017 gestartete Mission Aardram («Mitgefühl») stärkte die öffentliche Gesundheitsversorgung, einschließlich Notaufnahmen und Trauma-Einrichtungen, und brachte mehr Menschen vom teuren privaten Gesundheitssektor in die öffentlichen Systeme. Die Regierung verankerte die Mission Aardram in den Strukturen der lokalen Selbstverwaltung, um das gesamte Gesundheitssystem zu dezentralisieren und besser auf die Bedürfnisse der Gemeinschaften abzustimmen. So entwickelte die Mission eine enge Beziehung zu verschiedenen Genossenschaften wie Kudumbashree, einem Frauenprogramm zur Bekämpfung der Armut mit 4,5 Millionen Mitgliedern. Dank des wiederbelebten öffentlichen Gesundheitssystems hat die Bevölkerung Keralas begonnen, sich vom privaten Sektor abzuwenden und diese staatlichen Einrichtungen zu nutzen, deren Inanspruchnahme von 28 Prozent in den 1980er Jahren auf 70 Prozent im Jahr 2021 stieg.
Im Rahmen der Mission Aardram schuf die Demokratische Linksfront in Kerala im ganzen Bundesstaat Familiengesundheitszentren. In diesen Zentren hat die Regierung nun Post-COVID-Kliniken eingerichtet, um Menschen zu diagnostizieren und zu behandeln, die an langfristigen Gesundheitsproblemen im Zusammenhang mit COVID-19 leiden. Diese Kliniken wurden trotz geringer Unterstützung durch die Zentralregierung in Neu-Delhi eingerichtet. Eine Reihe von Gesundheits- und Forschungsinstituten in Kerala haben einen Durchbruch im Verständnis übertragbarer Krankheiten erzielt und zur Entwicklung neuer Medikamente beigetragen, darunter das Institute for Advanced Virology, das International Ayurveda Research Institute und die Forschungszentren für Biotechnologie und pharmazeutische Arzneimittel im Bio360 Life Sciences Park. All dies ist genau die Agenda des Mitgefühls, die uns Hoffnung auf eine Welt gibt, die nicht auf privaten Profit, sondern auf soziales Wohl ausgerichtet ist.
Im November 2021 hat das Tricontinental: Institute for Social Research gemeinsam mit sechsundzwanzig Forschungsinstituten einen Plan zur Rettung des Planeten entwickelt. Der Plan besteht aus vielen Abschnitten, die alle auf der Grundlage eingehender Studien und Analysen entstanden sind. Einer der wichtigsten Abschnitte befasst sich mit der Gesundheit und enthält dreizehn klare politische Vorschläge:
- Förderung eines Volksimpfstoffs für COVID-19 und für künftige Krankheiten.
- Aufhebung der Patentkontrollen für unentbehrliche Arzneimittel und Erleichterung des Transfers von medizinischer Wissenschaft und Technologie in die Entwicklungsländer.
- Dekommodifizierung, Entwicklung und Erhöhung der Investitionen in robuste öffentliche Gesundheitssysteme.
- Ausbau der Arzneimittelproduktion des öffentlichen Sektors, insbesondere in den Entwicklungsländern.
- Einrichtung eines zwischenstaatlichen Gremiums der Vereinten Nationen für Gesundheitsbedrohungen.
- Unterstützung und Stärkung der Rolle, die die Gewerkschaften des Gesundheitspersonals am Arbeitsplatz und in der Wirtschaft spielen.
- Sicherstellen, dass Menschen aus unterprivilegierten Verhältnissen und ländlichen Gebieten als Ärzte ausgebildet werden.
- Ausweitung der medizinischen Solidarität, u. a. durch die Weltgesundheitsorganisation und Gesundheitsplattformen in Verbindung mit regionalen Gremien.
- Mobilisierung von Kampagnen und Aktionen zum Schutz und zur Erweiterung der reproduktiven und sexuellen Rechte.
- Erhebung einer Gesundheitssteuer auf Großunternehmen, die Getränke und Lebensmittel herstellen, die nach Einschätzung internationaler Gesundheitsorganisationen schädlich für Kinder und die öffentliche Gesundheit im Allgemeinen sind (z. B. solche, die zu Fettleibigkeit oder anderen chronischen Krankheiten führen).
- Eindämmung der Werbeaktivitäten und ‑ausgaben von Pharmaunternehmen.
- Aufbau eines Netzes von zugänglichen, öffentlich finanzierten Diagnosezentren und strenge Regulierung der Verschreibung und der Preise von Diagnosetests.
- Bereitstellung von psychologischen Therapien als Teil des öffentlichen Gesundheitssystems.
Wenn auch nur die Hälfte dieser politischen Vorschläge umgesetzt würde, wäre die Welt weniger gefährlich und Mitgefühl könnte wachsen. Nehmen wir Punkt 6 als Beispiel. In den ersten Monaten der Pandemie war es üblich, über die notwendige Unterstützung »unverzichtbarer Arbeitskräfte« zu sprechen, darunter auch Beschäftigte des Gesundheitswesens (in unserem Dossier «Gesundheit ist eine politische Entscheidung» vom Juni 2020 haben wir uns für diese Arbeitskräfte eingesetzt). Bald darauf verstummten die Paukenschläge, und die Beschäftigten des Gesundheitswesens sahen sich mit niedrigen Löhnen und schlechten Arbeitsbedingungen konfrontiert. Als die Beschäftigten des Gesundheitswesens streikten – von den Vereinigten Staaten bis Kenia – blieb Unterstützung einfach aus. Hätten die Beschäftigten des Gesundheitswesens ein Mitspracherecht an ihren Arbeitsplätzen und bei der Gestaltung der Gesundheitspolitik, wären unsere Gesellschaften weniger anfällig für sich wiederhlende Katastrophen im Gesundheitswesen.
Es gibt ein Gedicht von Roque Dalton aus dem Jahr 1968 über Kopfschmerzen und Sozialismus, das uns einen Vorgeschmack darauf gibt, was nötig ist, um den Planeten zu retten:
Es ist schön, Kommunist zu sein,
auch wenn man davon ziemliche Kopfschmerzen bekommt.
Wobei die Kopfschmerzen der Kommunisten
sich historisch erklären, das heißt,
sie gehen nicht weg von Schmerztabletten,
sondern nur von der Errichtung des Paradieses auf Erden.
So ist das.
Unter dem Kapitalismus tut uns der Kopfweh,
und sie schlagen uns den Kopf ein.
Im Kampf für die Revolution ist der Kopf eine
Zeitzünderbombe.
Beim sozialistischen Aufbau
planen wir die Kopfschmerzen,
wodurch sie nicht weniger werden, ganz im Gegenteil.
Der Kommunismus wird, unter anderem,
ein Aspirin sein von der Größe der Sonne.
Herzlichst,
Vijay