In einer Welt der großen Unordnung und extravaganten Lügen suchen wir nach Mitgefühl.

Der neunzehnte Newsletter (2022).

Fran­cisca Lita Sáez (Spanien), An Unequal Fight, 2020.

Liebe Freund*innen,

 

Grüße aus dem Büro von Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

Es sind zutiefst beun­ru­hi­gende Zeiten. Die globale Pande­mie COVID-19 hatte das Poten­zial, Menschen zusam­men­zu­brin­gen, globale Insti­tu­tio­nen wie die Welt­ge­sund­heits­or­ga­ni­sa­tion (WHO) zu stär­ken und neues Vertrauen in das öffent­li­che Handeln zu wecken. Unser enor­mer gesell­schaft­li­cher Reich­tum hätte für die Verbes­se­rung der öffent­li­chen Gesund­heits­sys­teme einge­setzt werden können, einschließ­lich der Über­wa­chung von Krank­heits­aus­brü­chen und der Entwick­lung medi­zi­ni­scher Systeme zur Behand­lung von Menschen während dieser Ausbrü­che. Dem ist nicht so.

 

Studien der WHO haben gezeigt, dass die Ausga­ben der Regie­run­gen in den ärme­ren Ländern für die Gesund­heits­ver­sor­gung während der Pande­mie rela­tiv gleich geblie­ben sind, während die priva­ten Ausga­ben für die Gesund­heits­ver­sor­gung weiter stei­gen. Seit der Ausru­fung der Pande­mie im März 2020 haben viele Regie­run­gen mit außer­ge­wöhn­li­chen Haus­halts­zu­wei­sun­gen reagiert; aller­dings erhielt der Gesund­heits­sek­tor in allen Ländern, von den reiche­ren bis zu den ärme­ren, nur «einen rela­tiv klei­nen Teil», während der Groß­teil der Ausga­ben für die Rettung multi­na­tio­na­ler Unter­neh­men und Banken sowie für die soziale Unter­stüt­zung der Bevöl­ke­rung verwen­det wurde.

 

Im Jahr 2020 kostete die Pande­mie das globale Brut­to­in­lands­pro­dukt schät­zungs­weise 4 Billio­nen Dollar. Nach Anga­ben der WHO wird der «Finanz­be­darf … für die Vorbe­rei­tung auf die Epide­mie auf etwa 150 Milli­ar­den US-Dollar pro Jahr geschätzt». Mit ande­ren Worten: Jähr­li­che Ausga­ben in Höhe von 150 Milli­ar­den Dollar könn­ten die nächste Pande­mie mit ihren wirt­schaft­li­chen Kosten in Höhe von mehre­ren Billio­nen Dollar und uner­mess­li­chem Leid wahr­schein­lich verhin­dern. Aber diese Art von sozia­ler Inves­ti­tion ist heut­zu­tage einfach nicht zu stem­men. Das ist ein Teil dessen, was unsere Zeit so beun­ru­hi­gend macht.

S. H. Raza (Indien), Monsun in Bombay, 1947–49.

Am 5. Mai veröf­fent­lichte die WHO ihre Erkennt­nisse über die durch die COVID-19-Pande­mie verur­sach­ten zusätz­li­chen Todes­fälle. Die WHO schätzt diese Zahl für den Zeit­raum von 24 Mona­ten in den Jahren 2020 und 2021 auf 14,9 Millio­nen. Ein Drit­tel dieser Todes­fälle (4,7 Millio­nen) soll in Indien zu bekla­gen sein; das ist das Zehn­fa­che der offi­zi­el­len Zahl, die von der Regie­rung von Premier­mi­nis­ter Naren­dra Modi veröf­fent­licht wurde, die die Zahlen der WHO bestrei­tet. Man sollte meinen, dass diese erschüt­tern­den Zahlen – fast 15 Millio­nen Tote welt­weit in dem Zwei­jah­res­zeit­raum – ausrei­chen würden, um den Willen zum Wieder­auf­bau der erschöpf­ten öffent­li­chen Gesund­heits­sys­teme zu stär­ken. Dem ist nicht so.

 

Laut einer Studie zur globa­len Gesund­heits­fi­nan­zie­rung stieg die Entwick­lungs­hilfe für Gesund­heit (DAH) zwischen 2019 und 2020 um 35,7 Prozent. Das entspricht 13,7 Mrd. USD an DAH, was weit unter den prognos­ti­zier­ten 33 bis 62 Mrd. USD liegt, die zur Bekämp­fung der Pande­mie erfor­der­lich sind. Während die DAH-Mittel in der Zeit der Pande­mie in COVID-19-Projekte flos­sen, gingen sie in verschie­de­nen wich­ti­gen Gesund­heits­sek­to­ren zurück (Mala­ria um 2,2 Prozent, HIV/AIDS um 3,4 Prozent, Tuber­ku­lose um 5,5 Prozent, repro­duk­tive Gesund­heit und Mütter­ge­sund­heit um 6,8 Prozent), was dem globa­len Muster entspricht. Bei den Ausga­ben für COVID-19 gab es auch einige auffäl­lige geogra­fi­sche Unter­schiede: Die Kari­bik und Latein­ame­rika erhiel­ten nur 5,2 Prozent der DAH-Mittel, obwohl sie 28,7 Prozent der welt­weit gemel­de­ten COVID-19-Todes­fälle aufwiesen.

Saji­tha R. Shan­kar (Indien), Alter­body, 2008.

Während die indi­sche Regie­rung damit beschäf­tigt ist, die COVID-19-Todes­fälle bei der WHO anzu­fech­ten, konzen­triert sich die Regie­rung von Kerala – unter der Führung der Linken Demo­kra­ti­schen Front – darauf, den öffent­li­chen Gesund­heits­sek­tor mit allen Mitteln zu verbes­sern. Kerala mit seinen fast 35 Millio­nen Einwohner*innen ist unter den acht­und­zwan­zig indi­schen Bundes­staa­ten regel­mä­ßig Spit­zen­rei­ter bei den Gesund­heits­in­di­ka­to­ren des Landes. Die Regie­rung der Demo­kra­ti­schen Links­front in Kerala konnte die Pande­mie in den Griff bekom­men, weil sie solide öffent­li­che Inves­ti­tio­nen in die Gesund­heits­ein­rich­tun­gen getä­tigt hat, weil die Maßnah­men von dyna­mi­schen sozia­len Bewe­gun­gen ange­führt wurden, die mit der Regie­rung verbun­den sind, und weil sie eine Poli­tik der sozia­len Einglie­de­rung verfolgt, die die Hier­ar­chien der Kaste und des Patri­ar­chats, die soziale Minder­hei­ten ansons­ten von öffent­li­chen Einrich­tun­gen isolie­ren, auf ein Mini­mum redu­ziert hat.

 

Als die Linke Demo­kra­ti­sche Front 2016 die Führung des Staa­tes über­nahm, begann sie mit der Verbes­se­rung des ausge­laug­ten öffent­li­che Gesund­heits­sys­tems. Die 2017 gestar­tete Mission Aardram («Mitge­fühl») stärkte die öffent­li­che Gesund­heits­ver­sor­gung, einschließ­lich Notauf­nah­men und Trauma-Einrich­tun­gen, und brachte mehr Menschen vom teuren priva­ten Gesund­heits­sek­tor in die öffent­li­chen Systeme. Die Regie­rung veran­kerte die Mission Aardram in den Struk­tu­ren der loka­len Selbst­ver­wal­tung, um das gesamte Gesund­heits­sys­tem zu dezen­tra­li­sie­ren und besser auf die Bedürf­nisse der Gemein­schaf­ten abzu­stim­men. So entwi­ckelte die Mission eine enge Bezie­hung zu verschie­de­nen Genos­sen­schaf­ten wie Kudum­bashree, einem Frau­en­pro­gramm zur Bekämp­fung der Armut mit 4,5 Millio­nen Mitglie­dern. Dank des wieder­be­leb­ten öffent­li­chen Gesund­heits­sys­tems hat die Bevöl­ke­rung Kera­las begon­nen, sich vom priva­ten Sektor abzu­wen­den und diese staat­li­chen Einrich­tun­gen zu nutzen, deren Inan­spruch­nahme von 28 Prozent in den 1980er Jahren auf 70 Prozent im Jahr 2021 stieg.


Im Rahmen der Mission Aardram schuf die Demo­kra­ti­sche Links­front in Kerala im ganzen Bundes­staat Fami­li­en­ge­sund­heits­zen­tren. In diesen Zentren hat die Regie­rung nun Post-COVID-Klini­ken einge­rich­tet, um Menschen zu diagnos­ti­zie­ren und zu behan­deln, die an lang­fris­ti­gen Gesund­heits­pro­ble­men im Zusam­men­hang mit COVID-19 leiden. Diese Klini­ken wurden trotz gerin­ger Unter­stüt­zung durch die Zentral­re­gie­rung in Neu-Delhi einge­rich­tet. Eine Reihe von Gesund­heits- und Forschungs­in­sti­tu­ten in Kerala haben einen Durch­bruch im Verständ­nis über­trag­ba­rer Krank­hei­ten erzielt und zur Entwick­lung neuer Medi­ka­mente beigetra­gen, darun­ter das Insti­tute for Advan­ced Viro­logy, das Inter­na­tio­nal Ayur­veda Rese­arch Insti­tute und die Forschungs­zen­tren für Biotech­no­lo­gie und phar­ma­zeu­ti­sche Arznei­mit­tel im Bio360 Life Scien­ces Park. All dies ist genau die Agenda des Mitge­fühls, die uns Hoff­nung auf eine Welt gibt, die nicht auf priva­ten Profit, sondern auf sozia­les Wohl ausge­rich­tet ist.

Nguyễn tư Nghiêm (Viet­nam), The Dance, 1968.

Im Novem­ber 2021 hat das Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch gemein­sam mit sechs­und­zwan­zig Forschungs­in­sti­tu­ten einen Plan zur Rettung des Plane­ten entwi­ckelt. Der Plan besteht aus vielen Abschnit­ten, die alle auf der Grund­lage einge­hen­der Studien und Analy­sen entstan­den sind. Einer der wich­tigs­ten Abschnitte befasst sich mit der Gesund­heit und enthält drei­zehn klare poli­ti­sche Vorschläge:

 

      1. Förde­rung eines Volks­impf­stoffs für COVID-19 und für künf­tige Krankheiten.
      2. Aufhe­bung der Patent­kon­trol­len für unent­behr­li­che Arznei­mit­tel und Erleich­te­rung des Trans­fers von medi­zi­ni­scher Wissen­schaft und Tech­no­lo­gie in die Entwicklungsländer.
      3. Dekom­mo­di­fi­zie­rung, Entwick­lung und Erhö­hung der Inves­ti­tio­nen in robuste öffent­li­che Gesundheitssysteme.
      4. Ausbau der Arznei­mit­tel­pro­duk­tion des öffent­li­chen Sektors, insbe­son­dere in den Entwicklungsländern.
      5. Einrich­tung eines zwischen­staat­li­chen Gremi­ums der Verein­ten Natio­nen für Gesundheitsbedrohungen.
      6. Unter­stüt­zung und Stär­kung der Rolle, die die Gewerk­schaf­ten des Gesund­heits­per­so­nals am Arbeits­platz und in der Wirt­schaft spielen.
      7. Sicher­stel­len, dass Menschen aus unter­pri­vi­le­gier­ten Verhält­nis­sen und länd­li­chen Gebie­ten als Ärzte ausge­bil­det werden.
      8. Auswei­tung der medi­zi­ni­schen Soli­da­ri­tät, u. a. durch die Welt­ge­sund­heits­or­ga­ni­sa­tion und Gesund­heits­platt­for­men in Verbin­dung mit regio­na­len Gremien.
      9. Mobi­li­sie­rung von Kampa­gnen und Aktio­nen zum Schutz und zur Erwei­te­rung der repro­duk­ti­ven und sexu­el­len Rechte.
      10. Erhe­bung einer Gesund­heits­steuer auf Groß­un­ter­neh­men, die Getränke und Lebens­mit­tel herstel­len, die nach Einschät­zung inter­na­tio­na­ler Gesund­heits­or­ga­ni­sa­tio­nen schäd­lich für Kinder und die öffent­li­che Gesund­heit im Allge­mei­nen sind (z. B. solche, die zu Fett­lei­big­keit oder ande­ren chro­ni­schen Krank­hei­ten führen).
      11. Eindäm­mung der Werbe­ak­ti­vi­tä­ten und ‑ausga­ben von Pharmaunternehmen. 
      12. Aufbau eines Netzes von zugäng­li­chen, öffent­lich finan­zier­ten Diagno­se­zen­tren und strenge Regu­lie­rung der Verschrei­bung und der Preise von Diagnosetests.
      13. Bereit­stel­lung von psycho­lo­gi­schen Thera­pien als Teil des öffent­li­chen Gesundheitssystems.

 

Wenn auch nur die Hälfte dieser poli­ti­schen Vorschläge umge­setzt würde, wäre die Welt weni­ger gefähr­lich und Mitge­fühl könnte wach­sen. Nehmen wir Punkt 6 als Beispiel. In den ersten Mona­ten der Pande­mie war es üblich, über die notwen­dige Unter­stüt­zung »unver­zicht­ba­rer Arbeits­kräfte« zu spre­chen, darun­ter auch Beschäf­tigte des Gesund­heits­we­sens (in unse­rem Dossier «Gesund­heit ist eine poli­ti­sche Entschei­dung» vom Juni 2020 haben wir uns für diese Arbeits­kräfte einge­setzt). Bald darauf verstumm­ten die Pauken­schläge, und die Beschäf­tig­ten des Gesund­heits­we­sens sahen sich mit nied­ri­gen Löhnen und schlech­ten Arbeits­be­din­gun­gen konfron­tiert. Als die Beschäf­tig­ten des Gesund­heits­we­sens streik­ten – von den Verei­nig­ten Staa­ten bis Kenia – blieb Unter­stüt­zung einfach aus. Hätten die Beschäf­tig­ten des Gesund­heits­we­sens ein Mitspra­che­recht an ihren Arbeits­plät­zen und bei der Gestal­tung der Gesund­heits­po­li­tik, wären unsere Gesell­schaf­ten weni­ger anfäl­lig für sich wiederhlende Kata­stro­phen im Gesundheitswesen.

Es gibt ein Gedicht von Roque Dalton aus dem Jahr 1968 über Kopf­schmer­zen und Sozia­lis­mus, das uns einen Vorge­schmack darauf gibt, was nötig ist, um den Plane­ten zu retten:

 

Es ist schön, Kommu­nist zu sein,
auch wenn man davon ziem­li­che Kopf­schmer­zen bekommt.

Wobei die Kopf­schmer­zen der Kommu­nis­ten
sich histo­risch erklä­ren, das heißt,
sie gehen nicht weg von Schmerz­ta­blet­ten,
sondern nur von der Errich­tung des Para­die­ses auf Erden.
So ist das.

Unter dem Kapi­ta­lis­mus tut uns der Kopf­weh,
und sie schla­gen uns den Kopf ein.
Im Kampf für die Revo­lu­tion ist der Kopf eine
Zeit­zün­der­bombe.

Beim sozia­lis­ti­schen Aufbau
planen wir die Kopf­schmer­zen,
wodurch sie nicht weni­ger werden, ganz im Gegenteil.

Der Kommu­nis­mus wird, unter ande­rem,
ein Aspi­rin sein von der Größe der Sonne.

 

 

Herz­lichst,

 

Vijay

Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.