Wenn ich im Kampf falle, nimm meinen Platz ein.

Der neunzehnte Newsletter (2021).

Tiger Tatei­shi (Japan), Koya no Yojinbo (Samu­rai, der Wäch­ter), 1965.

Liebe Freund*innen,

 

Grüße vom Schreib­tisch des Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

Häss­lich ist die staat­li­chen Gewalt in Cali (Kolum­bien) oder Durban (Südafrika), auch wenn jeder Kontext anders und die Inten­si­tät der Gewalt an jedem Ort unter­schied­lich ist. Bilder von Sicher­heits­kräf­ten, die Menschen angrei­fen, die ihre poli­ti­schen Rechte einfor­dern, sind alltäg­lich gewor­den. Es ist unmög­lich, den Über­blick über die Ereig­nisse zu behal­ten, die hin- und herwech­seln zwischen öffent­li­chen Mani­fes­ta­tio­nen und Gerichts­saal-Szenen, zwischen Tränen­gas­wol­ken und fast unsicht­ba­rer Frus­tra­tion in der Gefäng­nis­zelle. Hinter all diesen Ereig­nis­sen und im Zentrum der Gefühls­wel­ten, die sie prägen, steht ein Akt der Verwei­ge­rung. Es ist die Große Verwei­ge­rung, eine Weige­rung, die von den Machthaber*innen diktier­ten Bedin­gun­gen zu akzep­tie­ren, und die Weige­rung, diesen Dissens in höfli­chen Worten auszudrücken.

Am Sonn­tag eröff­nete Minis­ter­prä­si­dent Vija­yan seine Pres­se­kon­fe­renz nicht mit den Wahl­er­geb­nis­sen, sondern mit einem COVID-19-Update. Erst nach­dem er die Menschen in Kerala über den aktu­el­len Stand der Pande­mie im Bundes­staat infor­miert hatte, begrüßte er den «Sieg des Volkes». Dieser Sieg, sagte er, «macht uns demü­ti­ger. Er verlangt, dass wir uns mehr enga­gie­ren». Vom Zyklon 2017 bis zur Coro­na­vi­rus-Pande­mie infor­mierte der Minis­ter­prä­si­dent die Öffent­lich­keit stets in ruhi­gen und sach­li­chen Pres­se­kon­fe­ren­zen, indem er die Probleme wissen­schaft­lich fundiert einschätzte und den Menschen, die ange­sichts der herr­schen­den Umstände verzwei­felt waren, Hoff­nung zusprach.

 

Jeo Baby – der Mala­ya­lam-Film­re­gis­seur, der den Kassen­schla­ger The Great Indian Kitchen (2021) gedreht hat – machte sogar eine humor­volle und liebe­volle Parodie auf die Pres­se­kon­fe­renz; letz­tes Jahr über­spielte er seine Stimme in einem Face­book-Video und forderte seinem vier­jäh­ri­gen Sohn auf, sich die Zähne zu putzen, bevor er seinen Morgen­tee trinkt! Die Pres­se­kon­fe­renz am 2. Mai – im Anschluss an die Verkün­dung des Wahl­er­geb­nis­ses – setzte diese Tradi­tion der ratio­na­len Ruhe fort.

Kolum­bi­ens Regie­rung hat ein eigen­ar­tig benann­tes «Gesetz für nach­hal­tige Soli­da­ri­tät» (Ley de Soli­da­ri­dad Sosteni­ble) durch­ge­setzt, das die Kosten der Pande­mie auf die Bevöl­ke­rung abwälzt, die – wie zu erwar­ten – wütend reagierte. Konfron­tiert mit einem landes­wei­ten Streik am 28. und 29. April reagierte der kolum­bia­ni­sche Staat, wie so oft, mit bruta­ler Gewalt, unter ande­rem mit dem Einsatz der Mobi­len Anti-Störungs-Schwa­dron (ESMAD) – ein bezeich­nen­der Name. Die auf die Straße gingen, kamen mit Wut und mit Musik, geeint durch ihre Ableh­nung der Regie­rung von Präsi­dent Iván Duque.


Die unnach­gie­bige kolum­bia­ni­sche Olig­ar­chie, die zur Aufrecht­erhal­tung ihrer Macht Gewalt anwen­det, muss gezit­tert haben, als sie sah, wie Demonstrant*innen in Cali die Statue des Konquis­ta­do­ren Sebas­tián de Belal­cá­zar abris­sen. Dieser Akt machte deut­lich, dass sich die Demons­trie­ren­den nicht mit der Aufhe­bung des Geset­zes zufrie­den geben würden, sondern die star­ren Hier­ar­chien ihrer Gesell­schaft besei­ti­gen wollen. Duque betrach­tet die Demons­trie­ren­den nicht als Bürger*innen; für ihn sind sie «Vanda­len». Kein Wunder, dass Duque brutalste Gewalt entfes­selte, wobei die Städte Bogotá, Cali und Medel­lin die Haupt­last des Angriffs zu tragen hatten. Trotz der Aufrufe der Bürgermeister*innen von Bogotá (Clau­dia López) und Medel­lin (Daniel Quin­tero) ging diese staat­li­che Gewalt weiter und die Stra­ßen glichen den Schlacht­fel­dern im Irak, wie es ein kolum­bia­ni­scher Freund ausdrückte, der über die Kriege in West­asien berich­tet hatte.

David Kolo­ane (Südafrika), Bull in the City (Stier in der Stadt), 2016.

Wie der Irak. Oder wie Israel, das kürz­lich von Human Rights Watch (HRW) als Apart­heid­staat bezeich­net wurde. Apart­heid ist ein Afri­kaans-Wort und bedeu­tet «Abson­de­rung», um die Weißen von den ande­ren getrennt zu halten oder, im Falle Isra­els, um die jüdi­schen Bürger*innen von den paläs­ti­nen­si­schen Untertan*innen getrennt zu halten. Der HRW-Bericht folgt zahl­rei­chen ande­ren Berich­ten der Wirt­schafts- und Sozi­al­kom­mis­sion der Verein­ten Natio­nen für West­asien (ESCWA), die das Wort «Apart­heid» bezeich­ne­ten, um Isra­els rassis­ti­sche Poli­tik gegen­über dem paläs­ti­nen­si­schen Volk zu beschrei­ben. HRW hat sich Zeit genom­men, bevor es sich dieser elemen­ta­ren Schluss­fol­ge­rung anschloss, und sagt, dass Israel den Palästinenser*innen nach­drück­lich das Recht auf Leben vorent­hält; «die Entbeh­run­gen sind so schwer­wie­gend, dass sie den Verbre­chen der Apart­heid gegen die Mensch­lich­keit und der Verfol­gung gleich­zu­set­zen sind».

 

Die Verbin­dung zwischen den Begrif­fen «Apart­heid» und «Verbre­chen gegen die Mensch­lich­keit» bezieht sich auf eine Reso­lu­tion der Gene­ral­ver­samm­lung der Verein­ten Natio­nen vom Dezem­ber 1966, die «die Poli­tik der Apart­heid der Regie­rung Südafri­kas als Verbre­chen gegen die Mensch­lich­keit» verur­teilte. Im Jahr 1984 bezeich­nete der UN-Sicher­heits­rat die Apart­heid als «ein System, das als Verbre­chen gegen die Mensch­lich­keit gekenn­zeich­net ist». Der Begriff «Verbre­chen gegen die Mensch­lich­keit» wurde später in Arti­kel 7 des Römi­schen Statuts des Inter­na­tio­na­len Straf­ge­richts­hofs (1998) veran­kert. Es ist kein Zufall, dass die Chef­an­klä­ge­rin des Inter­na­tio­na­len Straf­ge­richts­hofs (IStGH), Fatou Bensouda, am 3. März 2021 sagte, dass der IStGH eine Unter­su­chung von Verbre­chen einlei­ten wird, die seit 2014 in Israel began­gen wurden. Israel hat sich gewei­gert, mit dem IStGH zu kooperieren.

 

Israe­li­sche Gerichte entschie­den über die Räumung von sechs Fami­lien aus dem paläs­ti­nen­si­schen Vier­tel Sheikh Jarrah in Ostje­ru­sa­lem, einem Gebiet mit drei­tau­send Einwohner*innen – trotz der Tatsa­che, dass die israe­li­schen Gerichte in den besetz­ten Gebie­ten keine Zustän­dig­keit haben. 1967 nahm Israel Ost-Jeru­sa­lem ein, das zu den besetz­ten paläs­ti­nen­si­schen Gebie­ten gehört. Die UN-Reso­lu­tion 242 (1967) besagt, dass die Besat­zungs­macht, also Israel, die Souve­rä­ni­tät, die poli­ti­sche Unab­hän­gig­keit und die «terri­to­riale Unver­letz­lich­keit» eines jeden Staa­tes in dieser Region respek­tie­ren muss. 1972 bean­trag­ten israe­li­sche Siedler*innen bei den israe­li­schen Gerich­ten die Vertrei­bung Tausen­der von Palästinenser*innen, die in dem Gebiet lebten, ein Prozess, gegen den sich die Palästinenser*innen in den fünf­zig Jahren seit­her gewehrt haben. Die dreiste Gewalt der israe­li­schen Grenz­po­li­zei, Magav, eska­lierte erneut mit dem Eindrin­gen schwer bewaff­ne­ter israe­li­scher Soldat*innen in die Jeru­sa­le­mer al-Aqsa-Moschee am 7. Mai.

 

Die schreck­li­che Unter­drü­ckung geht mit dem fort­ge­setz­ten Versuch einher, jedes poli­ti­sche Projekt des paläs­ti­nen­si­schen Volkes zu dele­gi­ti­mie­ren. Wenn sich das paläs­ti­nen­si­sche Volk auflehnt, bezeich­net Israel es als terro­ris­tisch. Dies erin­nert an die Art, wie die südafri­ka­ni­sche Apart­heid-Regie­rung und ihre west­li­chen Verbün­de­ten während der Blüte­zeit des Anti-Apart­heid-Kamp­fes über den Afri­ka­ni­schen Natio­nal­kon­gress spra­chen. Im Jahr 1994 über­nahm die Alli­anz des Afri­ka­ni­schen Natio­nal­kon­gres­ses die Macht über den südafri­ka­ni­schen Staat und leitete damit einen lang­fris­ti­gen Prozess ein, um die fest­ge­fah­re­nen Struk­tu­ren der Ungleich­heit und der Apart­heid abzu­bauen; es wird Gene­ra­tio­nen des Wider­stands brau­chen, um das rück­gän­gig zu machen, was über Jahr­zehnte hinweg so mäch­tig aufge­baut wurde.

Dang Xuan Hoa (Viet­nam), The Red Family (Die rote Fami­lie), 2008.

Im August 2020 veröf­fent­lichte das Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch ein Dossier mit dem Titel The Poli­tic of Blood: Poli­ti­cal Repres­sion in South Africa («Die Poli­tik des Blutes: Poli­ti­sche Unter­drü­ckung in Südafrika»). Am Anfang des Textes wird aus Frantz Fanons «Die Verdamm­ten dieser Erde» (1961) zitiert, der das Wort «Unfä­hig­keit» mehr­mals verwen­det und auf die herr­schen­den Klas­sen der neuen Staa­ten bezieht, die aus dem Kolo­nia­lis­mus hervor­ge­hen. Wenn die Menschen ihre eige­nen Orga­ni­sa­tio­nen aufbauen und ihre Forde­run­gen nach parti­zi­pa­to­ri­schen Formen der Demo­kra­tie entwi­ckeln, ist die herr­schende Klasse, so schreibt Fanon, unfä­hig, dieses Handeln des Volkes als ratio­nal zu verste­hen; sie sieht darin eine Bedro­hung ihrer Herr­schaft. Eine solche Haltung kenn­zeich­net die kolum­bia­ni­sche Olig­ar­chie und die israe­li­sche Apart­heid­klasse. Sie defi­niert auch die herr­schende Klasse in Südafrika, deren poli­ti­sche Instru­mente keinen Raum für das Wachs­tum der unab­hän­gi­gen poli­ti­schen Orga­ni­sa­tion der Arbei­ter­klasse in diesem Land eröffnen.

 

Am 4. Mai 2021 verhaf­te­ten die Behör­den Mqapheli George Bonono, den stell­ver­tre­ten­den Vorsit­zen­den von Abah­l­ali baseM­jon­dolo (AbM), der Bewe­gung der Slumbewohner*innen in Südafrika. Die Behör­den klag­ten Bonono wegen «Verschwö­rung zum Mord» an. Die von Slumbewohner*innen ange­führte AbM, die Land­be­set­zun­gen und Kämpfe um Wohn­raum orga­ni­siert und 82.000 Mitglie­der hat, ist seit ihrer Grün­dung im Jahr 2005 mit Repres­sio­nen konfrontiert.

 

Im Jahr 2018 inter­view­ten wir den AbM-Führer S’bu Zikode für ein Dossier, in dem er sagte:

 

Poli­tik ist ein Weg gewor­den, um reich zu werden, und die Leute sind bereit, alles zu tun, sogar zu töten, um reich zu werden und reich zu blei­ben. Wir bewe­gen uns von Beer­di­gung zu Beer­di­gung. Wir begra­ben unsere Genoss*innen mit der Würde, die ihnen im Leben verwehrt wurde. Viele unse­rer Genoss*innen können im soge­nann­ten demo­kra­ti­schen Post-Apart­heid-Südafrika nicht in ihren eige­nen Häusern schla­fen oder sie können ihre Häuser nach Einbruch der Dunkel­heit nicht verlas­sen. Die Repres­sion kommt in Wellen.

 

Bonono ist nur der jüngste Fall, bei dem ein Mitglied der AbM poli­ti­scher Repres­sion ausge­setzt war. Mutige Aktivist*innen welt­weit sind Einschüch­te­run­gen und Ermor­dun­gen ausge­setzt, weil sie Orga­ni­sa­tio­nen gegen ihre gegen­wär­ti­gen Verhält­nisse aufbauen. Die Repres­sion mündete vor kurzem in der Ermor­dung des Künst­lers Nico­las Guer­rero in Cali (Kolum­bien) durch die Poli­zei und den poli­ti­schen Mord an Kakali Khetra­pal von der Kommu­nis­ti­schen Partei Indi­ens (Marxis­tisch) aus Naba­gram, Ost-Burd­wan (West­ben­ga­len, Indien). Guer­rero wurde in den ersten Stun­den der Protest­welle auf der Straße getö­tet, während Ketra­pal von Mitglie­dern der Partei ermor­det wurde, die die Parla­ments­wah­len in West­ben­ga­len gewon­nen hat. Das ist poli­ti­sche Säube­rung oder Poli­ti­zid, die Ermor­dung von Aktivist*innen, deren Tod die Entschlos­sen­heit der Massen schwä­chen soll, es mit dem großen Granit­block der Macht aufzu­neh­men. Die Mörder*innen schär­fen ihre Schwer­ter im Schat­ten und nehmen ihre Befehle via Handys entge­gen, mit welchen sie die Mäch­ti­gen anru­fen können.

 

Fernando Bryce (Peru), Untit­led (Cada­ve­res Atomicos) (Ohne Titel/Atomische Kada­ver), 2018.

 

Häss­lich, dieser Gebrauch von Macht, dieses straf­lose Töten. Am 6. Mai dran­gen Schwa­dro­nen des Staa­tes in die Favela Jaca­re­zinho in Rio de Janeiro (Brasi­lien) ein und eröff­ne­ten das Feuer. Sie töte­ten mindes­tens fünf­und­zwan­zig Menschen, die im Begriff waren, sich zu erge­ben, als die Schüsse losgin­gen. Die Verein­ten Natio­nen haben eine Unter­su­chung ange­for­dert, aber das wird nicht weit führen. Die Todes­strafe wurde mit der brasi­lia­ni­schen Verfas­sung von 1988 abge­schafft, doch was gesche­hen ist, zeigt, dass die Poli­zei glaubt, die Todes­strafe – ohne recht­li­che Grund­la­gen – sei immer noch erlaubt, wenn es Menschen in den Fave­las betrifft. 



Was sind das für Zeiten, in denen poli­ti­sche Repres­sion funk­tio­niert, ohne nach­drück­li­che Empö­rung auszu­lö­sen? Muin Bseiso sang Lieder, um seine paläs­ti­nen­si­schen Mitbürger*innen, die in Gaza von der israe­li­schen Apart­heid erstickt werden, aufzu­rüt­teln. In seinem epischen Gedicht Al-Ma’raka (Der Kampf) gibt Muin Bseiso diesen Trost:

 

Wenn ich im Kampf falle, Genosse, nimm meinen Platz ein.

Sieh auf meine Lippen, wie sie den Wahn­sinn des Windes aufhalten.

Ich bin nicht gestor­ben. Ich rufe dich immer noch von jenseits meiner Wunden.

Schlage deine Trom­mel, damit das Volk deinen Ruf zum Kampf hört.

 

Herz­lichst,

 

Vijay

Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.