Wenn ich im Kampf falle, nimm meinen Platz ein.
Der neunzehnte Newsletter (2021).
Liebe Freund*innen,
Grüße vom Schreibtisch des Tricontinental: Institute for Social Research.
Hässlich ist die staatlichen Gewalt in Cali (Kolumbien) oder Durban (Südafrika), auch wenn jeder Kontext anders und die Intensität der Gewalt an jedem Ort unterschiedlich ist. Bilder von Sicherheitskräften, die Menschen angreifen, die ihre politischen Rechte einfordern, sind alltäglich geworden. Es ist unmöglich, den Überblick über die Ereignisse zu behalten, die hin- und herwechseln zwischen öffentlichen Manifestationen und Gerichtssaal-Szenen, zwischen Tränengaswolken und fast unsichtbarer Frustration in der Gefängniszelle. Hinter all diesen Ereignissen und im Zentrum der Gefühlswelten, die sie prägen, steht ein Akt der Verweigerung. Es ist die Große Verweigerung, eine Weigerung, die von den Machthaber*innen diktierten Bedingungen zu akzeptieren, und die Weigerung, diesen Dissens in höflichen Worten auszudrücken.
Am Sonntag eröffnete Ministerpräsident Vijayan seine Pressekonferenz nicht mit den Wahlergebnissen, sondern mit einem COVID-19-Update. Erst nachdem er die Menschen in Kerala über den aktuellen Stand der Pandemie im Bundesstaat informiert hatte, begrüßte er den «Sieg des Volkes». Dieser Sieg, sagte er, «macht uns demütiger. Er verlangt, dass wir uns mehr engagieren». Vom Zyklon 2017 bis zur Coronavirus-Pandemie informierte der Ministerpräsident die Öffentlichkeit stets in ruhigen und sachlichen Pressekonferenzen, indem er die Probleme wissenschaftlich fundiert einschätzte und den Menschen, die angesichts der herrschenden Umstände verzweifelt waren, Hoffnung zusprach.
Jeo Baby – der Malayalam-Filmregisseur, der den Kassenschlager The Great Indian Kitchen (2021) gedreht hat – machte sogar eine humorvolle und liebevolle Parodie auf die Pressekonferenz; letztes Jahr überspielte er seine Stimme in einem Facebook-Video und forderte seinem vierjährigen Sohn auf, sich die Zähne zu putzen, bevor er seinen Morgentee trinkt! Die Pressekonferenz am 2. Mai – im Anschluss an die Verkündung des Wahlergebnisses – setzte diese Tradition der rationalen Ruhe fort.
Kolumbiens Regierung hat ein eigenartig benanntes «Gesetz für nachhaltige Solidarität» (Ley de Solidaridad Sostenible) durchgesetzt, das die Kosten der Pandemie auf die Bevölkerung abwälzt, die – wie zu erwarten – wütend reagierte. Konfrontiert mit einem landesweiten Streik am 28. und 29. April reagierte der kolumbianische Staat, wie so oft, mit brutaler Gewalt, unter anderem mit dem Einsatz der Mobilen Anti-Störungs-Schwadron (ESMAD) – ein bezeichnender Name. Die auf die Straße gingen, kamen mit Wut und mit Musik, geeint durch ihre Ablehnung der Regierung von Präsident Iván Duque.
Die unnachgiebige kolumbianische Oligarchie, die zur Aufrechterhaltung ihrer Macht Gewalt anwendet, muss gezittert haben, als sie sah, wie Demonstrant*innen in Cali die Statue des Konquistadoren Sebastián de Belalcázar abrissen. Dieser Akt machte deutlich, dass sich die Demonstrierenden nicht mit der Aufhebung des Gesetzes zufrieden geben würden, sondern die starren Hierarchien ihrer Gesellschaft beseitigen wollen. Duque betrachtet die Demonstrierenden nicht als Bürger*innen; für ihn sind sie «Vandalen». Kein Wunder, dass Duque brutalste Gewalt entfesselte, wobei die Städte Bogotá, Cali und Medellin die Hauptlast des Angriffs zu tragen hatten. Trotz der Aufrufe der Bürgermeister*innen von Bogotá (Claudia López) und Medellin (Daniel Quintero) ging diese staatliche Gewalt weiter und die Straßen glichen den Schlachtfeldern im Irak, wie es ein kolumbianischer Freund ausdrückte, der über die Kriege in Westasien berichtet hatte.
Wie der Irak. Oder wie Israel, das kürzlich von Human Rights Watch (HRW) als Apartheidstaat bezeichnet wurde. Apartheid ist ein Afrikaans-Wort und bedeutet «Absonderung», um die Weißen von den anderen getrennt zu halten oder, im Falle Israels, um die jüdischen Bürger*innen von den palästinensischen Untertan*innen getrennt zu halten. Der HRW-Bericht folgt zahlreichen anderen Berichten der Wirtschafts- und Sozialkommission der Vereinten Nationen für Westasien (ESCWA), die das Wort «Apartheid» bezeichneten, um Israels rassistische Politik gegenüber dem palästinensischen Volk zu beschreiben. HRW hat sich Zeit genommen, bevor es sich dieser elementaren Schlussfolgerung anschloss, und sagt, dass Israel den Palästinenser*innen nachdrücklich das Recht auf Leben vorenthält; «die Entbehrungen sind so schwerwiegend, dass sie den Verbrechen der Apartheid gegen die Menschlichkeit und der Verfolgung gleichzusetzen sind».
Die Verbindung zwischen den Begriffen «Apartheid» und «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» bezieht sich auf eine Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom Dezember 1966, die «die Politik der Apartheid der Regierung Südafrikas als Verbrechen gegen die Menschlichkeit» verurteilte. Im Jahr 1984 bezeichnete der UN-Sicherheitsrat die Apartheid als «ein System, das als Verbrechen gegen die Menschlichkeit gekennzeichnet ist». Der Begriff «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» wurde später in Artikel 7 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs (1998) verankert. Es ist kein Zufall, dass die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), Fatou Bensouda, am 3. März 2021 sagte, dass der IStGH eine Untersuchung von Verbrechen einleiten wird, die seit 2014 in Israel begangen wurden. Israel hat sich geweigert, mit dem IStGH zu kooperieren.
Israelische Gerichte entschieden über die Räumung von sechs Familien aus dem palästinensischen Viertel Sheikh Jarrah in Ostjerusalem, einem Gebiet mit dreitausend Einwohner*innen – trotz der Tatsache, dass die israelischen Gerichte in den besetzten Gebieten keine Zuständigkeit haben. 1967 nahm Israel Ost-Jerusalem ein, das zu den besetzten palästinensischen Gebieten gehört. Die UN-Resolution 242 (1967) besagt, dass die Besatzungsmacht, also Israel, die Souveränität, die politische Unabhängigkeit und die «territoriale Unverletzlichkeit» eines jeden Staates in dieser Region respektieren muss. 1972 beantragten israelische Siedler*innen bei den israelischen Gerichten die Vertreibung Tausender von Palästinenser*innen, die in dem Gebiet lebten, ein Prozess, gegen den sich die Palästinenser*innen in den fünfzig Jahren seither gewehrt haben. Die dreiste Gewalt der israelischen Grenzpolizei, Magav, eskalierte erneut mit dem Eindringen schwer bewaffneter israelischer Soldat*innen in die Jerusalemer al-Aqsa-Moschee am 7. Mai.
Die schreckliche Unterdrückung geht mit dem fortgesetzten Versuch einher, jedes politische Projekt des palästinensischen Volkes zu delegitimieren. Wenn sich das palästinensische Volk auflehnt, bezeichnet Israel es als terroristisch. Dies erinnert an die Art, wie die südafrikanische Apartheid-Regierung und ihre westlichen Verbündeten während der Blütezeit des Anti-Apartheid-Kampfes über den Afrikanischen Nationalkongress sprachen. Im Jahr 1994 übernahm die Allianz des Afrikanischen Nationalkongresses die Macht über den südafrikanischen Staat und leitete damit einen langfristigen Prozess ein, um die festgefahrenen Strukturen der Ungleichheit und der Apartheid abzubauen; es wird Generationen des Widerstands brauchen, um das rückgängig zu machen, was über Jahrzehnte hinweg so mächtig aufgebaut wurde.
Im August 2020 veröffentlichte das Tricontinental: Institute for Social Research ein Dossier mit dem Titel The Politic of Blood: Political Repression in South Africa («Die Politik des Blutes: Politische Unterdrückung in Südafrika»). Am Anfang des Textes wird aus Frantz Fanons «Die Verdammten dieser Erde» (1961) zitiert, der das Wort «Unfähigkeit» mehrmals verwendet und auf die herrschenden Klassen der neuen Staaten bezieht, die aus dem Kolonialismus hervorgehen. Wenn die Menschen ihre eigenen Organisationen aufbauen und ihre Forderungen nach partizipatorischen Formen der Demokratie entwickeln, ist die herrschende Klasse, so schreibt Fanon, unfähig, dieses Handeln des Volkes als rational zu verstehen; sie sieht darin eine Bedrohung ihrer Herrschaft. Eine solche Haltung kennzeichnet die kolumbianische Oligarchie und die israelische Apartheidklasse. Sie definiert auch die herrschende Klasse in Südafrika, deren politische Instrumente keinen Raum für das Wachstum der unabhängigen politischen Organisation der Arbeiterklasse in diesem Land eröffnen.
Am 4. Mai 2021 verhafteten die Behörden Mqapheli George Bonono, den stellvertretenden Vorsitzenden von Abahlali baseMjondolo (AbM), der Bewegung der Slumbewohner*innen in Südafrika. Die Behörden klagten Bonono wegen «Verschwörung zum Mord» an. Die von Slumbewohner*innen angeführte AbM, die Landbesetzungen und Kämpfe um Wohnraum organisiert und 82.000 Mitglieder hat, ist seit ihrer Gründung im Jahr 2005 mit Repressionen konfrontiert.
Im Jahr 2018 interviewten wir den AbM-Führer S’bu Zikode für ein Dossier, in dem er sagte:
Politik ist ein Weg geworden, um reich zu werden, und die Leute sind bereit, alles zu tun, sogar zu töten, um reich zu werden und reich zu bleiben. Wir bewegen uns von Beerdigung zu Beerdigung. Wir begraben unsere Genoss*innen mit der Würde, die ihnen im Leben verwehrt wurde. Viele unserer Genoss*innen können im sogenannten demokratischen Post-Apartheid-Südafrika nicht in ihren eigenen Häusern schlafen oder sie können ihre Häuser nach Einbruch der Dunkelheit nicht verlassen. Die Repression kommt in Wellen.
Bonono ist nur der jüngste Fall, bei dem ein Mitglied der AbM politischer Repression ausgesetzt war. Mutige Aktivist*innen weltweit sind Einschüchterungen und Ermordungen ausgesetzt, weil sie Organisationen gegen ihre gegenwärtigen Verhältnisse aufbauen. Die Repression mündete vor kurzem in der Ermordung des Künstlers Nicolas Guerrero in Cali (Kolumbien) durch die Polizei und den politischen Mord an Kakali Khetrapal von der Kommunistischen Partei Indiens (Marxistisch) aus Nabagram, Ost-Burdwan (Westbengalen, Indien). Guerrero wurde in den ersten Stunden der Protestwelle auf der Straße getötet, während Ketrapal von Mitgliedern der Partei ermordet wurde, die die Parlamentswahlen in Westbengalen gewonnen hat. Das ist politische Säuberung oder Politizid, die Ermordung von Aktivist*innen, deren Tod die Entschlossenheit der Massen schwächen soll, es mit dem großen Granitblock der Macht aufzunehmen. Die Mörder*innen schärfen ihre Schwerter im Schatten und nehmen ihre Befehle via Handys entgegen, mit welchen sie die Mächtigen anrufen können.
Hässlich, dieser Gebrauch von Macht, dieses straflose Töten. Am 6. Mai drangen Schwadronen des Staates in die Favela Jacarezinho in Rio de Janeiro (Brasilien) ein und eröffneten das Feuer. Sie töteten mindestens fünfundzwanzig Menschen, die im Begriff waren, sich zu ergeben, als die Schüsse losgingen. Die Vereinten Nationen haben eine Untersuchung angefordert, aber das wird nicht weit führen. Die Todesstrafe wurde mit der brasilianischen Verfassung von 1988 abgeschafft, doch was geschehen ist, zeigt, dass die Polizei glaubt, die Todesstrafe – ohne rechtliche Grundlagen – sei immer noch erlaubt, wenn es Menschen in den Favelas betrifft.
Was sind das für Zeiten, in denen politische Repression funktioniert, ohne nachdrückliche Empörung auszulösen? Muin Bseiso sang Lieder, um seine palästinensischen Mitbürger*innen, die in Gaza von der israelischen Apartheid erstickt werden, aufzurütteln. In seinem epischen Gedicht Al-Ma’raka (Der Kampf) gibt Muin Bseiso diesen Trost:
Wenn ich im Kampf falle, Genosse, nimm meinen Platz ein.
Sieh auf meine Lippen, wie sie den Wahnsinn des Windes aufhalten.
Ich bin nicht gestorben. Ich rufe dich immer noch von jenseits meiner Wunden.
Schlage deine Trommel, damit das Volk deinen Ruf zum Kampf hört.
Herzlichst,
Vijay
Aus dem Englischen von Claire Louise Blaser.