
In den Fabriken gibt es Reichtum, aber kein Leben.
Der achtzehnte Newsletter (2023).

Liebe Freund*innen,
Grüße aus aus dem Büro von Tricontinental: Institute for Social Research.
Ende 2022 veröffentlichte die Internationale Arbeitsorganisation (IAO) einen beindruckenden Bericht mit dem Titel Working Time and Work-Life Balance Around the World («Arbeitszeit und Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben weltweit»), der zum großen Teil durch eine Reihe von Initiativen in Indien zur Verlängerung des Arbeitstages angeregt wurde. In dem Bericht wurden globale Daten über die im Jahr 2019 vor dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie am Arbeitsplatz verbrachte Zeit zusammengetragen. Die IAO stellte fest, dass «etwa ein Drittel der weltweiten Erwerbsbevölkerung (35,4 Prozent) mehr als 48 Stunden pro Woche arbeitet» und «ein Fünftel der weltweiten Beschäftigung (20,3 Prozent) aus kurzen (oder Teilzeit-)Arbeitszeiten von weniger als 35 Stunden pro Woche besteht», wie etwa Gig-Arbeit. Darüber hinaus stellte der Bericht fest, dass die Berufsgruppe mit den «längsten durchschnittlichen Arbeitszeiten Anlagen- und Maschinenbediener*innen sowie Monteur*innen waren, die im Durchschnitt 48,2 Stunden pro Woche gearbeitet haben».
In ganz Indien gibt es eine anhaltende Debatte über eine Überarbeitung der Höchstgrenzen für die Länge des Arbeitstages. Ein Gesetzentwurf im Bundesstaat Tamil Nadu sieht eine Änderung des Fabrikgesetzes von 1948 vor, die es den Fabriken erlauben würde, den Arbeitstag von acht auf zwölf Stunden zu verlängern. In der Versammlung des Bundesstaates Tamil Nadu erklärte Regierungsminister CV Ganesan, dass der Bundesstaat – der die meisten Fabriken in Indien hat – mehr ausländische Investitionen anziehen müsse, was einfacher wäre, wenn den Fabriken «flexible Arbeitszeiten» gestattet würden. Proteste der Gewerkschaften und der Linken blockierten die Regierung, obwohl die Wirtschaftslobby (die Vanigar Sangangalin Peramaippu) Druck ausübte. Im Februar wurde ein ähnliches Gesetz im Nachbarstaat Karnataka verabschiedet. «Indien steht mit anderen Ländern der Welt im Wettbewerb um Investitionen», sagte der Minister für Elektronik, Informationstechnologie und Biotechnologie, Dr. CN Ashwath Narayan, «nur mit einem flexiblen Arbeitsrecht können Investitionen angezogen werden».

Von Tricontinental: Institute for Social Research kommt unser eigener Beitrag zu dieser Debatte, unser Mai-Dossier, The Condition of the Indian Working Class («Die Lage der indischen Arbeiterklasse»). Das Dossier beginnt mit zwei Ereignissen aus dem Jahr 2020. Erstens forderte die indische Regierung zu Beginn der Pandemie Millionen von Arbeiter*innen auf, in ihre Dörfer zurückzukehren, und zweitens begannen die indischen Landwirt*innen einen massiven Protest gegen den Versuch der Regierung, die Kontrolle über die Mandis («Erzeugermärkte») an Großunternehmen zu übertragen. Diese Ereignisse zeigen sowohl das harschee Verhalten der indischen Regierung und der Unternehmensklasse gegenüber den Arbeitnehmer*innen als auch den anhaltenden Widerstand der Arbeiter*innen und Bäuer*innen gegen die Strukturen, die sie ausbeuten und unterdrücken.
Im Jahr 1991 nutzte Indien eine kurzfristige Zahlungsbilanzkrise, um die institutionell verankerten Strukturen der «nationalen Entwicklung» zu zerschlagen und die Wirtschaft für ausländische Investitionen zu öffnen. Diese «Liberalisierung», wie sie in Indien genannt wird, bedeutete, dass dem Kapital ein entscheidender Vorteil gegenüber der Arbeit eingeräumt wurde und dass der von der Arbeiterklasse und der Bauernschaft hart erkämpfte Arbeitsschutz aufgehoben wurde.
Die indischen Arbeiter*innen erkannten diesen Trend und begannen zur Verteidigung ihrer Rechte eine Reihe von Protesten, gegen das, was sich «Liberalisierung des Arbeitsmarktes» nennt. Das Schlüsselwort «Flexibilität» bedeutete nichts anderes, als dass die Arbeitnehmer*innen künftig ihre wertvollen Rechte aufgeben müssen, um Investitionen anzuziehen und diesen Investoren größere Gewinne zu bescheren. Trotz der von den Arbeiter*innen gemachten Zugeständnisse – einige wurden erzwungen, andere durch Verhandlungen erreicht – waren die durch die neoliberale Politik geschaffenen Arbeitsplätze nur Notjobs. Wie wir in dem Dossier schreiben:
Das Versprechen groß angelegter industrieller Investitionen und der Schaffung hochwertiger industrieller Arbeitsplätze hat sich nicht in nennenswertem Umfang erfüllt, und sowohl das wirtschaftliche als auch das industrielle Wachstum sind auf einem niedrigen Niveau geblieben, nicht nur wegen des Mangels an Investitionen, sondern auch wegen der gebremsten Nachfrage in der indischen Bevölkerung. Diese Nachfrage wurde durch die extrem niedrigen Löhne eines Großteils der Bevölkerung sowie durch die neoliberalen Beschränkungen der öffentlichen Ausgaben, insbesondere im Agrarsektor, gedrosselt.

Was wir in Indien beobachten, geschieht in anderen Teilen der Welt ähnlich: Immer mehr Arbeitnehmer*innen rutschen in die Prekarität ab. Während die Pandemie den Anstieg informeller und unregulierter Beschäftigung beschleunigte, hat die IAO in einer Reihe regionaler Studien – beispielsweise in Ägypten – gezeigt, dass der Trend zu prekärer Arbeit bereits davor rapide zunahm, wobei ein rücksichtsloser Klassenkampf unter dem Deckmantel technisch klingender Begriffe wie «Arbeitsmarktflexibilität» geführt wurde.
Im Jahr 2015 verabschiedeten die Vereinten Nationen eine bahnbrechende Resolution, in der siebzehn Ziele für nachhaltige Entwicklung angekündigt wurden und in der eindeutig die Notwendigkeit der «Förderung von dauerhaftem, integrativem und nachhaltigem Wirtschaftswachstum, produktiver Vollbeschäftigung und menschenwürdiger Arbeit für alle» festgestellt wurde. Unter «menschenwürdiger Arbeit» versteht die IAO «produktive Vollbeschäftigung, Rechte bei der Arbeit, Sozialschutz und Förderung des sozialen Dialogs«, oder – einfacher ausgedrückt – das Recht auf produktive Arbeit, sichere Arbeitsbedingungen, Sozialversicherung und Tarifverhandlungen.

Es ist seit langem klar, dass die IAO-Normen von den meisten Ländern einfach nicht ernst genommen werden. Gewerkschaften und andere Organisationen der Arbeiterklasse bieten die einzige Plattform mit Befreiungspotenzial, wobei der Zusammenspann von Branchengewerkschaften und Gewerkschaftsverbünden eine Schlüsselrolle für den Erfolg solcher Bemühungen spielt. Zur Bekämpfung des vorgeschlagenen Gesetzes über Arbeitsbeziehungen (1978), welches auch das Streikrecht geschwächt hätte, bildeten verschiedene Gewerkschaften den Nationalen Kampagnenausschuss der Gewerkschaften. Im Jahr 1982 führte dieser Ausschuss einen Generalstreik gegen die Einführung des Essential Services Maintenance Act (1981) an, einem weiteren Versuch, die gewerkschaftliche Organisierung zu schwächen. Seit 1991 hat der Ausschuss zusammen mit der gemeinsamen Plattform der Central Trade Union Organisations zweiundzwanzig Generalstreiks durchgeführt, von denen jeder größer war als der vorangegangene.
Im März 2022 schlossen sich 200 Millionen Arbeitnehmer*innen, von der Industrie bis zum Pflegebereich, dem Generalstreik an und legten das Land lahm. Diese Streiks waren massiv, weil die Gewerkschaftsbewegung die Kämpfe der nicht organisierten informellen Arbeiter*innen mit der gleichen Energie aufgenommen hat wie die Kämpfe ihrer eigenen Mitglieder, wie K. Hemlata, die Präsidentin des Centre of Indian Trade Unions, in unserem Dossier Nr. 18 vom Juli 2019 beschrieb. Der Klassenkampf lebt, auch wenn eine der Schwächen unserer Zeit darin besteht, dass diese massiven Mobilisierungen nicht leicht in politische Macht umgewandelt werden konnten. Die Macht des Geldes hat die Demokratie ertränkt, und der Aufstieg giftiger rechter Ideen – einschließlich des religiösen Fundamentalismus – hat eine einflussreiche Rolle in Gemeinschaften gespielt, die mit der allmählichen Zerstörung des kollektiven Lebens zu kämpfen haben (ein Phänomen, das wir im Dossier Nr. 59, Religious Fundamentalism and Imperialism in Latin America, besprechen). Nichtsdestotrotz, wie wir im Schlusssatz unseres neuen Dossiers schreiben, halten die Arbeiter*innen «den Klassenkampf am Leben».

Im Frühsommer 2020 gab es mir einen Stich ins Herz, als ich zusehen musste, wie Millionen von Arbeiter*innen sich auf müden Füßen durch die hitzegeplagte Landschaft Indiens schleppten. Gulzar Saab, einer der großen Dichter und Filmregisseure des Landes, beobachtete diesen Exodus der Arbeiterklasse und schrieb ein Gedicht, das die Stimmung einfing: Marenge To Wahin Jaa Kar Jahan Par Zindagi Hai («Sie gehen zum Sterben dorthin, wo es Leben gibt»). Wir sind Saab dankbar, dass wir dieses Gedicht hier veröffentlichen dürfen:
Die Pandemie wütete.
Die Arbeiter und Angestellten flohen in ihre Häuser.
In den Städten standen alle Maschinen still.
Nur Hände und Füße bewegten sich.
Ihre Leben hatten sie zuhause in den Dörfern angepflanzt.
Alles Säen und Ernten geschah dort:
Jowar, Weizen, Mais, Bajra – all das.
Die Zwistigkeiten mit den Vettern und Brüdern.
Die Streitereien bei den Kanälen und Wasserstraßen.
Die Schlägertypen, manchmal von ihrer Seite und manchmal von der anderen Seite angeheuert.
Die Rechtsstreitigkeiten, die bis zu den Großeltern und Großonkeln zurückreichen.
Verlobungen, Eheschließungen, Felder.
Dürre, Überschwemmung, die Angst: Wird es regnen oder nicht?
Sie zum Sterben dorthin – wo es Leben gibt.
Hierher haben sie nur ihre Körper mitgebracht und sie dann angeschlossen!
Sie zogen die Stecker heraus:
«Kommt, lasst uns nach Hause gehen» – und sie sind losgezogen.
Sie gehen dorthin, um zu sterben – dort, wo es Leben gibt.

Die Kunst in diesem Newsletter, unserem letzten Dossier entnommen, stammt von Birender Kumar Yadav, einem vielseitigen indischen Künstler aus Dhanbad, einer Eisenerz- und Kohlestadt, die auf dem Rücken von Bergarbeiter*innen und der indigenen Bevölkerung errichtet wurde. Ein Großteil von Yadavs Arbeiten, geprägt von seinen frühen Erfahrungen als Sohn eines Schmieds, der in einem Kohlebergwerk arbeitete, lenken die Aufmerksamkeit auf inakzeptable Klassenhierarchien und die Notlage der Arbeiterklasse.
Herzlichst,
Vijay