In den Fabriken gibt es Reichtum, aber kein Leben. 

Der achtzehnte Newsletter (2023).

Ausschnitt von: Biren­der Kumar Yadav (Indien), Debris of Fate, 2015.

Liebe Freund*innen,

 

Grüße aus aus dem Büro von Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

Ende 2022 veröf­fent­lichte die Inter­na­tio­nale Arbeits­or­ga­ni­sa­tion (IAO) einen bein­dru­cken­den Bericht mit dem Titel Working Time and Work-Life Balance Around the World («Arbeits­zeit und Verein­bar­keit von Beruf und Privat­le­ben welt­weit»), der zum großen Teil durch eine Reihe von Initia­ti­ven in Indien zur Verlän­ge­rung des Arbeits­ta­ges ange­regt wurde. In dem Bericht wurden globale Daten über die im Jahr 2019 vor dem Ausbruch der COVID-19-Pande­mie am Arbeits­platz verbrachte Zeit zusam­men­ge­tra­gen. Die IAO stellte fest, dass «etwa ein Drit­tel der welt­wei­ten Erwerbs­be­völ­ke­rung (35,4 Prozent) mehr als 48 Stun­den pro Woche arbei­tet» und «ein Fünf­tel der welt­wei­ten Beschäf­ti­gung (20,3 Prozent) aus kurzen (oder Teilzeit-)Arbeitszeiten von weni­ger als 35 Stun­den pro Woche besteht», wie etwa Gig-Arbeit. Darüber hinaus stellte der Bericht fest, dass die Berufs­gruppe mit den «längs­ten durch­schnitt­li­chen Arbeits­zei­ten Anla­gen- und Maschinenbediener*innen sowie Monteur*innen waren, die im Durch­schnitt 48,2 Stun­den pro Woche gear­bei­tet haben».

 

In ganz Indien gibt es eine anhal­tende Debatte über eine Über­ar­bei­tung der Höchst­gren­zen für die Länge des Arbeits­ta­ges. Ein Gesetz­ent­wurf im Bundes­staat Tamil Nadu sieht eine Ände­rung des Fabrik­ge­set­zes von 1948 vor, die es den Fabri­ken erlau­ben würde, den Arbeits­tag von acht auf zwölf Stun­den zu verlän­gern. In der Versamm­lung des Bundes­staa­tes Tamil Nadu erklärte Regie­rungs­mi­nis­ter CV Gane­san, dass der Bundes­staat – der die meis­ten Fabri­ken in Indien hat – mehr auslän­di­sche Inves­ti­tio­nen anzie­hen müsse, was einfa­cher wäre, wenn den Fabri­ken «flexi­ble Arbeits­zei­ten» gestat­tet würden. Proteste der Gewerk­schaf­ten und der Linken blockier­ten die Regie­rung, obwohl die Wirt­schafts­lobby (die Vani­gar Sanganga­lin Pera­maippu) Druck ausübte. Im Februar wurde ein ähnli­ches Gesetz im Nach­bar­staat Karna­taka verab­schie­det. «Indien steht mit ande­ren Ländern der Welt im Wett­be­werb um Inves­ti­tio­nen», sagte der Minis­ter für Elek­tro­nik, Infor­ma­ti­ons­tech­no­lo­gie und Biotech­no­lo­gie, Dr. CN Ashwath Nara­yan, «nur mit einem flexi­blen Arbeits­recht können Inves­ti­tio­nen ange­zo­gen werden». 

Biren­der Kumar Yadav (Indien), Govern­ment Work Is God’s Work, 2017.

Von Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch kommt unser eige­ner Beitrag zu dieser Debatte, unser Mai-Dossier, The Condi­tion of the Indian Working Class («Die Lage der indi­schen Arbei­ter­klasse»). Das Dossier beginnt mit zwei Ereig­nis­sen aus dem Jahr 2020. Erstens forderte die indi­sche Regie­rung zu Beginn der Pande­mie Millio­nen von Arbeiter*innen auf, in ihre Dörfer zurück­zu­keh­ren, und zwei­tens began­nen die indi­schen Landwirt*innen einen massi­ven Protest gegen den Versuch der Regie­rung, die Kontrolle über die Mandis («Erzeu­ger­märkte») an Groß­un­ter­neh­men zu über­tra­gen. Diese Ereig­nisse zeigen sowohl das harschee Verhal­ten der indi­schen Regie­rung und der Unter­neh­mens­klasse gegen­über den Arbeitnehmer*innen als auch den anhal­ten­den Wider­stand der Arbeiter*innen und Bäuer*innen gegen die Struk­tu­ren, die sie ausbeu­ten und unterdrücken.

 

Im Jahr 1991 nutzte Indien eine kurz­fris­tige Zahlungs­bi­lanz­krise, um die insti­tu­tio­nell veran­ker­ten Struk­tu­ren der «natio­na­len Entwick­lung» zu zerschla­gen und die Wirt­schaft für auslän­di­sche Inves­ti­tio­nen zu öffnen. Diese «Libe­ra­li­sie­rung», wie sie in Indien genannt wird, bedeu­tete, dass dem Kapi­tal ein entschei­den­der Vorteil gegen­über der Arbeit einge­räumt wurde und dass der von der Arbei­ter­klasse und der Bauern­schaft hart erkämpfte Arbeits­schutz aufge­ho­ben wurde.

 

Die indi­schen Arbeiter*innen erkann­ten diesen Trend und began­nen zur Vertei­di­gung ihrer Rechte eine Reihe von Protes­ten, gegen das, was sich «Libe­ra­li­sie­rung des Arbeits­mark­tes» nennt. Das Schlüs­sel­wort «Flexi­bi­li­tät» bedeu­tete nichts ande­res, als dass die Arbeitnehmer*innen künf­tig ihre wert­vol­len Rechte aufge­ben müssen, um Inves­ti­tio­nen anzu­zie­hen und diesen Inves­to­ren größere Gewinne zu besche­ren. Trotz der von den Arbeiter*innen gemach­ten Zuge­ständ­nisse – einige wurden erzwun­gen, andere durch Verhand­lun­gen erreicht – waren die durch die neoli­be­rale Poli­tik geschaf­fe­nen Arbeits­plätze nur Notjobs. Wie wir in dem Dossier schreiben:

 

Das Verspre­chen groß ange­leg­ter indus­tri­el­ler Inves­ti­tio­nen und der Schaf­fung hoch­wer­ti­ger indus­tri­el­ler Arbeits­plätze hat sich nicht in nennens­wer­tem Umfang erfüllt, und sowohl das wirt­schaft­li­che als auch das indus­tri­elle Wachs­tum sind auf einem nied­ri­gen Niveau geblie­ben, nicht nur wegen des Mangels an Inves­ti­tio­nen, sondern auch wegen der gebrems­ten Nach­frage in der indi­schen Bevöl­ke­rung. Diese Nach­frage wurde durch die extrem nied­ri­gen Löhne eines Groß­teils der Bevöl­ke­rung sowie durch die neoli­be­ra­len Beschrän­kun­gen der öffent­li­chen Ausga­ben, insbe­son­dere im Agrar­sek­tor, gedrosselt.

Biren­der Kumar Yadav (Indien), Erased Faces, 2015.

Was wir in Indien beob­ach­ten, geschieht in ande­ren Teilen der Welt ähnlich: Immer mehr Arbeitnehmer*innen rutschen in die Preka­ri­tät ab. Während die Pande­mie den Anstieg infor­mel­ler und unre­gu­lier­ter Beschäf­ti­gung beschleu­nigte, hat die IAO in einer Reihe regio­na­ler Studien – beispiels­weise in Ägyp­ten – gezeigt, dass der Trend zu prekä­rer Arbeit bereits davor rapide zunahm, wobei ein rück­sichts­lo­ser Klas­sen­kampf unter dem Deck­man­tel tech­nisch klin­gen­der Begriffe wie «Arbeits­markt­fle­xi­bi­li­tät» geführt wurde.

 

Im Jahr 2015 verab­schie­de­ten die Verein­ten Natio­nen eine bahn­bre­chende Reso­lu­tion, in der sieb­zehn Ziele für nach­hal­tige Entwick­lung ange­kün­digt wurden und in der eindeu­tig die Notwen­dig­keit der «Förde­rung von dauer­haf­tem, inte­gra­ti­vem und nach­hal­ti­gem Wirt­schafts­wachs­tum, produk­ti­ver Voll­be­schäf­ti­gung und menschen­wür­di­ger Arbeit für alle» fest­ge­stellt wurde. Unter «menschen­wür­di­ger Arbeit» versteht die IAO «produk­tive Voll­be­schäf­ti­gung, Rechte bei der Arbeit, Sozi­al­schutz und Förde­rung des sozia­len Dialogs«, oder – einfa­cher ausge­drückt – das Recht auf produk­tive Arbeit, sichere Arbeits­be­din­gun­gen, Sozi­al­ver­si­che­rung und Tarifverhandlungen.

Biren­der Kumar Yadav (Indien), Donkey Worker, 2015.

Es ist seit langem klar, dass die IAO-Normen von den meis­ten Ländern einfach nicht ernst genom­men werden. Gewerk­schaf­ten und andere Orga­ni­sa­tio­nen der Arbei­ter­klasse bieten die einzige Platt­form mit Befrei­ungs­po­ten­zial, wobei der Zusam­men­spann von Bran­chen­ge­werk­schaf­ten und Gewerk­schafts­ver­bün­den eine Schlüs­sel­rolle für den Erfolg solcher Bemü­hun­gen spielt. Zur Bekämp­fung des vorge­schla­ge­nen Geset­zes über Arbeits­be­zie­hun­gen (1978), welches auch das Streik­recht geschwächt hätte, bilde­ten verschie­dene Gewerk­schaf­ten den Natio­na­len Kampa­gnen­aus­schuss der Gewerk­schaf­ten. Im Jahr 1982 führte dieser Ausschuss einen Gene­ral­streik gegen die Einfüh­rung des Essen­tial Services Main­ten­ance Act  (1981) an, einem weite­ren Versuch, die gewerk­schaft­li­che Orga­ni­sie­rung zu schwä­chen. Seit 1991 hat der Ausschuss zusam­men mit der gemein­sa­men Platt­form der Central Trade Union Orga­ni­sa­ti­ons zwei­und­zwan­zig Gene­ral­streiks durch­ge­führt, von denen jeder größer war als der vorangegangene.

 

Im März 2022 schlos­sen sich 200 Millio­nen Arbeitnehmer*innen, von der Indus­trie bis zum Pfle­ge­be­reich, dem Gene­ral­streik an und legten das Land lahm. Diese Streiks waren massiv, weil die Gewerk­schafts­be­we­gung die Kämpfe der nicht orga­ni­sier­ten infor­mel­len Arbeiter*innen mit der glei­chen Ener­gie aufge­nom­men hat wie die Kämpfe ihrer eige­nen Mitglie­der, wie K. Hemlata, die Präsi­den­tin des Centre of Indian Trade Unions, in unse­rem Dossier Nr. 18 vom Juli 2019 beschrieb. Der Klas­sen­kampf lebt, auch wenn eine der Schwä­chen unse­rer Zeit darin besteht, dass diese massi­ven Mobi­li­sie­run­gen nicht leicht in poli­ti­sche Macht umge­wan­delt werden konn­ten. Die Macht des Geldes hat die Demo­kra­tie ertränkt, und der Aufstieg gifti­ger rech­ter Ideen – einschließ­lich des reli­giö­sen Funda­men­ta­lis­mus – hat eine einfluss­rei­che Rolle in Gemein­schaf­ten gespielt, die mit der allmäh­li­chen Zerstö­rung des kollek­ti­ven Lebens zu kämp­fen haben (ein Phäno­men, das wir im Dossier Nr. 59, Reli­gious Funda­men­ta­lism and Impe­ria­lism in Latin America, bespre­chen). Nichts­des­to­trotz, wie wir im Schluss­satz unse­res neuen Dossiers schrei­ben, halten die Arbeiter*innen «den Klas­sen­kampf am Leben».

Biren­der Kumar Yadav (Indien), Walking on the Roof of Hell, 2016.

Im Früh­som­mer 2020 gab es mir einen Stich ins Herz, als ich zuse­hen musste, wie Millio­nen von Arbeiter*innen sich auf müden Füßen durch die hitze­ge­plagte Land­schaft Indi­ens schlepp­ten. Gulzar Saab, einer der großen Dich­ter und Film­re­gis­seure des Landes, beob­ach­tete diesen Exodus der Arbei­ter­klasse und schrieb ein Gedicht, das die Stim­mung einfing: Marenge To Wahin Jaa Kar Jahan Par Zindagi Hai («Sie gehen zum Ster­ben dort­hin, wo es Leben gibt»). Wir sind Saab dank­bar, dass wir dieses Gedicht hier veröf­fent­li­chen dürfen:

 

Die Pande­mie wütete.

Die Arbei­ter und Ange­stell­ten flohen in ihre Häuser.

In den Städ­ten stan­den alle Maschi­nen still.

Nur Hände und Füße beweg­ten sich.

Ihre Leben hatten sie zuhause in den Dörfern angepflanzt.

 

Alles Säen und Ernten geschah dort:

Jowar, Weizen, Mais, Bajra – all das.

Die Zwis­tig­kei­ten mit den Vettern und Brüdern.

Die Strei­te­reien bei den Kanä­len und Wasserstraßen.

Die Schlä­ger­ty­pen, manch­mal von ihrer Seite und manch­mal von der ande­ren Seite angeheuert.

Die Rechts­strei­tig­kei­ten, die bis zu den Groß­el­tern und Groß­on­keln zurückreichen.

Verlo­bun­gen, Eheschlie­ßun­gen, Felder.

Dürre, Über­schwem­mung, die Angst: Wird es regnen oder nicht?

Sie  zum Ster­ben dort­hin – wo es Leben gibt.

Hier­her haben sie nur ihre Körper mitge­bracht und sie dann angeschlossen!

 

Sie zogen die Stecker heraus:

«Kommt, lasst uns nach Hause gehen» – und sie sind losgezogen.

Sie gehen dort­hin, um zu ster­ben – dort, wo es Leben gibt.

Biren­der Kumar Yadav (Indien), May Day, 2022.

Die Kunst in diesem News­let­ter, unse­rem letz­ten Dossier entnom­men, stammt von Biren­der Kumar Yadav, einem viel­sei­ti­gen indi­schen Künst­ler aus Dhan­bad, einer Eisen­erz- und Kohle­stadt, die auf dem Rücken von Bergarbeiter*innen und der indi­ge­nen Bevöl­ke­rung errich­tet wurde. Ein Groß­teil von Yadavs Arbei­ten, geprägt von seinen frühen Erfah­run­gen als Sohn eines Schmieds, der in einem Kohle­berg­werk arbei­tete, lenken die Aufmerk­sam­keit auf inak­zep­ta­ble Klas­sen­hier­ar­chien und die Notlage der Arbeiterklasse.

 

Herz­lichst,

 

Vijay

Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.