In Kerala bestimmt die Zukunft die Gegenwart.
Der achtzehnte Newsletter (2021).
Liebe Freund*innen!
Grüße vom Schreibtisch des Tricontinental: Institute for Social Research.
Kerala, ein Bundesstaat der indischen Union mit 35 Millionen Einwohnern, hat die Linke Demokratische Front (LDF) wiedergewählt, die Regierung für weitere fünf Jahre zu führen. Seit 1980 haben die Menschen in Kerala die amtierende Regierung jeweils abgewählt, und dabei einen steten Wechsel zwischen der Linken und der Rechten herbeigeführt. Dieses Jahr entschied sich das Volk, bei der Linken zu bleiben und dem Führer der Kommunistischen Partei Indiens (Marxistisch), Pinarayi Vijayan, eine zweite Amtszeit als Ministerpräsident zu gewähren. Die Gesundheitsministerin K. K. Shailaja, im Volksmund als «Shailaja Teacher» bekannt, wurde mit einem rekordverdächtigen Ergebnis von über 60.000 Stimmen wiedergewählt und lag damit weit vor den nächsten Kandidaten.
Es ist klar, dass die Menschen die linke Regierung aus drei Gründen wiedergewählt haben:
- Die effiziente und rationale Art und Weise, in der die LDF-Regierung die kaskadierenden Krisen des Zyklons Ockhi (2017), der Überschwemmungen (2018 und 2019) und der Viren (2018 Nipah und 2020–21 Corona) bewältigt hat.
- Trotz dieser Krisen erfüllte die Regierung weiter die Bedürfnisse der Menschen, baute erschwingliche Häuser, hochwertige öffentliche Schulen und die notwendige öffentliche Infrastruktur.
- Die Regierung und die linken Parteien setzten sich für die Verteidigung der säkularen und föderalen Struktur Indiens gegen den wachsenden, erstickenden Neofaschismus der Bharatiya Janata Party (BJP) und ihres Führers Narendra Modi, der Indiens Premierminister ist.
In anderen Teilen der Welt bestimmt die Vergangenheit die Gegenwart, in Kerala aber wird die Gegenwart von der Zukunft – von dem, was möglich ist – bestimmt.
Am Sonntag eröffnete Ministerpräsident Vijayan seine Pressekonferenz nicht mit den Wahlergebnissen, sondern mit einem COVID-19-Update. Erst nachdem er die Menschen in Kerala über den aktuellen Stand der Pandemie im Bundesstaat informiert hatte, begrüßte er den «Sieg des Volkes». Dieser Sieg, sagte er, «macht uns demütiger. Er verlangt, dass wir uns mehr engagieren». Vom Zyklon 2017 bis zur Coronavirus-Pandemie informierte der Ministerpräsident die Öffentlichkeit stets in ruhigen und sachlichen Pressekonferenzen, indem er die Probleme wissenschaftlich fundiert einschätzte und den Menschen, die angesichts der herrschenden Umstände verzweifelt waren, Hoffnung zusprach.
Jeo Baby – der Malayalam-Filmregisseur, der den Kassenschlager The Great Indian Kitchen (2021) gedreht hat – machte sogar eine humorvolle und liebevolle Parodie auf die Pressekonferenz; letztes Jahr überspielte er seine Stimme in einem Facebook-Video und forderte seinem vierjährigen Sohn auf, sich die Zähne zu putzen, bevor er seinen Morgentee trinkt! Die Pressekonferenz am 2. Mai – im Anschluss an die Verkündung des Wahlergebnisses – setzte diese Tradition der rationalen Ruhe fort.
Die im Vergleich dazu brüskierende Vorgehensweise des indischen Premierministers Narendra Modi muss für die Bevölkerung von Kerala besonders auffallend sein. Am 28. Januar hatte Modi auf dem Weltwirtschaftsforum im schweizerischen Davos verkündet, dass Indien COVID-19 besiegt habe. Prahlend war seine Haltung. «Es wäre nicht ratsam, Indiens Erfolg mit dem eines anderen Landes zu vergleichen», sagte Modi. «Das Land, in dem 18 Prozent der Weltbevölkerung lebt, hat die Menschheit vor einer großen Katastrophe bewahrt, indem es Corona wirksam eindämmte». Am gleichen Tag sagte Modis Gesundheitsminister Dr. Harsh Vardhan: «Indien hat seine COVID-19-Kurve abgeflacht». Bestätigt wurden an diesem Tag 18.855 neue Fälle. Aufmerksame Beobachter warnten, dass diese abflauenden Zahlen durch neue Varianten des Virus angesichts der mangelnden Vorsichtsmaßnahmen in der Gesellschaft sehr schnell wieder ansteigen könnten.
Wenige Tage bevor Modi und Vardhan diese Kommentare abgaben, erlaubte Modis Parteifreund und Ministerpräsident von Uttarakhand Trivendra Singh Rawat 7 Millionen Menschen, die Kumbh Mela im April durchzuführen. Die Kumbh Mela ist eine Versammlung frommer Menschen zur Feier der Rotation des Jupiters (Brihaspati), die alle zwölf Jahre stattfinden soll. Mitten in einer Pandemie wurde die diesjährige Versammlung ein Jahr im Voraus genehmigt. Regierungsbeamt*innen warnten Anfang April, dass die Kumbh und andere derartige Versammlungen die Übertragung des Virus befördern könnten. Das Gesundheitsministerium sagte, dies sei «inkorrekt und falsch». Die Mela fand statt, ebenso wie Modis Massenkundgebungen für die Parlamentswahlen.
Modis Kommentar auf dem Weltwirtschaftsforum war anmaßend und lächerlich. Ende April wurden in Indien täglich über 400.000 Fälle von COVID-19 bestätigt. Das gesamte Gesundheitssystem ist überfordert. Indiens Staatsausgaben für Gesundheit sind außerordentlich niedrig, etwa 1,3 % des BIP im Jahr 2018. Ende 2020 gab die indische Regierung zu, dass auf 1.000 Inder*innen 0,8 Ärzt*innen und 1,7 Krankenpfleger*innen kommen. Kein Land von Indiens Größe und Reichtum hat so wenig medizinisches Personal.
Es kommt noch schlimmer. Indien hat nur 5,3 Betten pro 10.000 Menschen, während China – zum Beispiel – 43,1 Betten für dieselbe Anzahl hat. Indien hat nur 2,3 Intensivpflegebetten pro 100.000 Menschen (im Vergleich zu 3,6 in China) und es hat nur 48.000 Beatmungsgeräte (China hatte 70.000 Beatmungsgeräte allein in Wuhan).
Die mangelhafte medizinische Infrastruktur ist ausschließlich auf die Privatisierung zurückzuführen, wobei die Krankenhäuser des privaten Sektors ihr System nach dem Prinzip der maximalen Kapazität betreiben und nicht in der Lage sind, Spitzenlasten zu bewältigen. Die Optimierungstheorie erlaubt es dem System nicht, Spitzenauslastung zu gewährleisten, da dies in normalen Zeiten bedeuten würde, dass die Krankenhäuser Überkapazitäten haben. Der private Sektor wird freiwillig weder extra Betten noch extra Beatmungsgeräte aufbauen. Das ist es, was bei einer Pandemie unweigerlich zur Krise führt. Niedrige Staatsausgaben für das Gesundheitswesen bedeuten niedrige Ausgaben für die medizinische Infrastruktur und niedrige Löhne für das medizinische Personal. Das ist eine schlechte Art, eine moderne Gesellschaft zu führen, sowohl in normalen als auch in außergewöhnlichen Zeiten.
Modis Partei – die BJP – hat bei dieser Wahl in Kerala klar verloren (sie gewann keinen einzigen Sitz hinzu), ihre Koalition verlor in Tamil Nadu (68 Millionen Einwohner*innen) und sie verlor in Westbengalen (91 Millionen Einwohner*innen). Das Mandat in diesen Bundesstaaten ist gegen die Katastrophe anzukämpfen, die durch ein marktgesteuertes medizinisches System und durch eine abgestumpfte, inkompetente Regierung geschaffen wurde. Es muss jedoch gesagt werden, dass dies nicht die Kerngebiete von Modis Unterstützer*innen sind. Die liegen vor allem in Nord- und Ostindien und werden bei den Wahlen frühestens in einem Jahr getestet werden. Die fortwährende Bauern- und Bäuerinnenrevolte, die im November 2020 begann, wird jedoch wahrscheinlich das Kräfteverhältnis in vielen dieser nord- und ostindischen Bundesstaaten, von Haryana bis Gujarat, verschieben.
Nichts spiegelt die grausame Inkompetenz der Regierung besser wider als die Impfstofflage. Indien produziert 60% der Impfstoffe der Welt. Doch Indien wird – wie Tejal Kanitkar, Professorin am National Institute of Advanced Studies, feststellte – beim derzeitigen Tempo seine Impfkampagne nicht vor November 2022 abschließen. Das ist eine unhaltbare Situation. Kanitkar macht drei politische Vorschläge, die sinnvoll sind und sofort unterstützt werden sollten:
- Beschaffung von Impfstoffen in großem Maßstab durch die indische Regierung zu regulierten Preisen.
- Ein transparentes Zuteilungsschema für alle 28 indischen Bundesstaaten und 8 Unionsterritorien, in Absprache mit Gesundheitsexpert*innen und den Regierungen der Bundesstaaten, um den Bedarf und die Versorgungsrate zu ermitteln, damit landesweit Gerechtigkeit herrscht.
- Umsetzung der Strategien lokaler Regierungen, um die Akzeptanz von Impfstoffen unter den arbeitenden Massen zu erhöhen und einen gerechten Zugang über alle wirtschaftlichen Klassen hinweg zu gewährleisten.
Dies ist ein Programm, das nicht nur für Indien, sondern für den größten Teil der Welt sinnvoll ist.
In Kerala herrscht freudige Stimmung, und vernünftige Menschen in ganz Indien schauen zur linken Regierung, wie sie mit der Pandemie umgeht und die Agenda des Volkes vorantreibt. Ein junger Dichter, Jeevesh M., hat den Geist des Sieges eingefangen:
Hey Blume!
warum bist du so rot?
Die Wurzeln sind tief eingedrungen,
und berühren die Basis.
Das war’s schon.
Einige Tage vor der Wahl wurde die Gesundheitsministerin von Kerala, K. K. Shailaja, nach dem Stand der Pandemie gefragt. Ihre Worte schließen diesen Newsletter ab:
Ich denke, es gibt zwei wichtige Lehren aus dieser Pandemie. Erstens, dass das Land eine angemessene Planung und dezentralisierte Umsetzungsmechanismen braucht, um unser Gesundheitssystem zu verbessern. Und zweitens, dass es keinen Aufschub bei der Erhöhung der öffentlichen Investitionen in das Gesundheitswesen geben darf. Wir geben nur ein Prozent unseres BIP für den Gesundheitssektor aus; das sollte auf mindestens zehn Prozent erhöht werden. Länder wie Kuba investieren viel mehr in die Gesundheitsversorgung. Das kubanische Hausarztsystem hat mich beeinflusst, als wir hier in Kerala die Familiengesundheitszentren gegründet haben. Die Gesundheitsversorgung muss universell sein, mit einigen Vorgaben in den tertiären Gesundheitseinrichtungen. Es muss mehr Investitionen in die Gesundheit auf der Primär‑, Sekundär- und Tertiärstufe geben. Es muss eine dezentralisierte Planung mit Regelungen geben. Kuba hat aufgrund seiner zentralisierten Planung und dezentralisierten Umsetzung viel erreicht. Ihr Gesundheitssystem ist menschenzentriert und patientenzentriert. Ihr egalitäres Konzept und ihre Dezentralisierung können hier nachgeahmt werden.
Ich bin eine Linke. Auf die Gesundheitspolitik dieses Landes habe ich derzeit keinen Einfluss. Aber wenn die Linke jetzt im Zentrum an der Macht wäre, hätten wir das Gesundheitswesen und die Bildung verstaatlicht. Die Regierung sollte die Kontrolle über die Gesundheitsversorgung haben, damit jeder und jede – ob arm oder reich – eine angemessene Behandlung erhält.
Herzlich,
Vijay
Aus dem Englischen von Claire Louise Blaser.