
Ich kann nicht vom Brot von morgen leben.
Der siebzehnte Newsletter (2022).

Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro von Tricontinental: Institute for Social Research.
Am 19. April veröffentlichte der Internationale Währungsfonds (IWF) seinen jährlichen World Economic Outlook, in dem er eine starke Verlangsamung des globalen Wachstums und steigende Preise vorhersagt. «Für 2022 wird eine Inflation von 5,7 Prozent in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften und von 8,7 Prozent in den Schwellen- und Entwicklungsländern prognostiziert – 1,8 bzw. 2,8 Prozentpunkte höher, als im Januar prognostiziert», heißt es in dem Bericht. Die Geschäftsführende Direktorin des IWF, Kristalina Georgieva, äußerte sich ernüchternd zu den Daten: «Die Inflation erreicht den höchsten Stand seit Jahrzehnten. Stark gestiegene Preise für Lebensmittel und Düngemittel setzen Haushalte weltweit unter Druck – insbesondere die ärmsten. Und wir wissen, dass Lebensmittelkrisen soziale Unruhen auslösen können».
Was ist die Ursache für diese außergewöhnliche Inflation? US-Präsident Joe Biden machte Russlands Krieg in der Ukraine dafür verantwortlich: «Was die Leute nicht wissen, ist, dass 70 Prozent des Inflationsanstiegs die Folge von [Russlands Präsident Wladimir] Putins Preiserhöhung aufgrund der Auswirkungen auf die Ölpreise war». Doch selbst die Redaktion des Wall Street Journals stellte fest, dass «dies nicht Putins Inflation ist». Georgieva vom IWF versuchte, einen Mittelweg zu finden, indem sie sagte, dass «Russlands Einmarsch in der Ukraine eine Krise in einer bereits bestehenden Krise geschaffen hat». Ihre Ansicht spiegelt die des World Economic Outlooks wider, in dem darauf hingewiesen wird, dass sich «die Krise entwickelt hat, während die Weltwirtschaft auf dem Weg der Besserung war, sich aber noch nicht vollständig von der COVID-19-Pandemie erholt hat».

Die Plattform No Cold War, mit der das Tricontinental: Institute for Social Research eng zusammenarbeitet, hat einen sehr wichtigen Beitrag zu dieser Debatte geleistet. Ihr Briefing Nr. 2, The United States Has Destabilised the World Economy («Die Vereinigten Staaten haben die Weltwirtschaft destabilisiert»), das weiter unten erscheint, legt dar, dass ein entscheidender Faktor in der gegenwärtigen Inflationskrise der übermäßige Einfluss der Vereinigten Staaten auf die Weltwirtschaft ist; dabei spielen die Militärausgaben der USA, der Anteil der Vereinigten Staaten am weltweiten Konsum, die Rolle des Wall Street-Dollar-IMF-Regimes und andere Faktoren eine Schlüsselrolle. Wir hoffen, ihr findet das Briefing Nr. 2 nützlich und teilt es.

Der Internationale Währungsfonds hat bekannt gegeben, dass sich die Weltwirtschaftsentwicklung stark verlangsamt, und hat die Wachstumsaussichten von 143 Ländern herabgestuft. Gleichzeitig haben die Inflationsraten ein historisches Niveau erreicht. Weltweit verarmen Hunderte von Millionen Menschen, vor allem im Globalen Süden. Oxfam hat Alarm geschlagen und verkündet, dass wir «den tiefsten Absturz der Menschheit in extreme Armut und Leid seit Menschengedenken» erleben. Was ist die Ursache für dieses unermessliche menschliche Leid?
Eine Wirtschaftskrise «Made in Washington»
Am 13. April behauptete die US-Finanzministerin Janet Yellen, dass diese weltweite wirtschaftliche Verschlechterung auf den russischen Krieg in der Ukraine zurückzuführen sei. Dies ist sachlich falsch. Auch wenn der Konflikt die Lage verschlimmert hat, ist der Hauptgrund für die Destabilisierung der Weltwirtschaft die massive Inflationswelle, die sich in den Vereinigten Staaten aufgebaut hatte und nun auf die ganze Welt überschwappt. Vor dem Krieg in der Ukraine hatte sich die Inflation in den USA in den letzten Jahren bereits von 2,5 % (Januar 2020) auf 7,5 % (Januar 2022) verdreifacht und beschleunigte sich nach Ausbruch des Krieges weiter auf 8,5 % (März 2022).
«Dies ist nicht Putins Inflation», stellte die Redaktion des Wall Street Journals fest. «Diese Inflation wurde in Washington gemacht».
Der US-Verbrauchermarkt absorbiert ein Fünftel der weltweiten Waren und Dienstleistungen. Da die Nachfrage nach diesen Gütern das globale Angebot übersteigt, ist die Tendenz sehr hoch, dass sich die US-Inflation auf die ganze Welt ausbreitet. Der durchschnittliche Index des Commodity Research Bureau, ein allgemeiner Indikator für globale Rohstoffmärkte, ist in astronomische Höhen geschnellt: Seit dem 25. April sind die Preise für Öl (60 %), Palmöl (60 %), Kaffee (56 %), Weizen (45 %), Erdgas (139 %) und Kohle (253 %) im Vergleich zum Vorjahr stark gestiegen. Diese Preissteigerungen haben Schockwellen durch die Weltwirtschaft geschickt.
Diese Instabilität ist untrennbar mit der Wirtschaftspolitik der USA verbunden. Seit 2020 haben die Vereinigten Staaten ihr Haushaltsbudget um 2,8 Billionen US-Dollar erhöht. Um diese Haushaltsausweitung zu finanzieren, hat die US-Regierung die Kreditaufnahme auf 27 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) erhöht, und die Federal Reserve Bank hat die Geldmenge (die Menge des ausgegebenen Geldes) im Vergleich zum Vorjahr um 27 % erhöht. Beide Erhöhungen sind die höchsten in der Geschichte der USA in Friedenszeiten.
Diese riesigen US-Wirtschaftspakete wurden verabschiedet, um Geld in die Hände der Verbraucher*innen zu bringen. Die US-Regierung konzentrierte sich auf die Nachfrageseite der Wirtschaft, indem sie Geld für Konsum in Umlauf brachte, aber sie erhöhte nicht die Ausgaben auf der Angebotsseite der Wirtschaft, indem sie Geld in Investitionen steckte. Von 2019 bis 2021 entfielen 98 % des BIP-Wachstums in den USA auf den Konsum und nur 2 % auf die Nettoinvestitionen. Mit einem starken Anstieg der Verbrauchernachfrage und fast keinem Anstieg des Angebots wuchs in den Vereinigten Staaten eine riesige Inflationswelle.

Investitionen in Waffen oder Menschen?
Die Inflation in den Vereinigten Staaten mit ihren weltweiten Auswirkungen ist ein Nebenprodukt ihrer wirtschaftlichen Prioritäten. In den letzten fünfzig Jahren haben die US-Regierungen den gesellschaftlichen Reichtum des Landes nicht für umfangreiche soziale Investitionen in Bereichen wie Bildung, Gesundheitswesen und Infrastruktur genutzt und auch nicht in den Produktionssektor investiert, um das Angebot zu erhöhen. Um die Inflation in den Griff zu bekommen, hat sich die Regierung stattdessen für ein Programm entschieden, das die Nachfrage senkt. Diese Nachfragesenkungen haben bereits zu einer Senkung des Lebensstandards geführt; so sind beispielsweise die Reallöhne in den Vereinigten Staaten im vergangenen Jahr um 2,7 % gesunken.
Anstatt soziale Investitionen zu tätigen, die einen solchen wirtschaftlichen Abschwung verhindern, hat die US-Regierung dem Militär Vorrang eingeräumt, dessen Budget jedes Jahr erhöht wird. Für 2022 hat die Regierung Biden einen Militärhaushalt von 813 Milliarden Dollar vorgeschlagen, was einer Steigerung von 9,2 % gegenüber dem Militärhaushalt von 2021 entspricht – mehr als die elf Länder mit den nächsthöchsten Ausgaben zusammen. Um diese massiven Ausgaben zu rechtfertigen, beruft sich die Biden-Regierung, wie schon die Trump-Regierung zuvor, auf die Notwendigkeit, die von China und Russland ausgehenden «Bedrohungen» zu bekämpfen.
Eine Senkung der US-Militärausgaben würde staatliche Mittel freisetzen, um in Bildung, Gesundheitswesen, Infrastruktur und Produktion zu investieren. Dies würde jedoch einen Wandel in der US-Außenpolitik erfordern, der nicht in Sicht ist. Bis dahin müssen die Menschen in den Vereinigten Staaten und anderen Ländern die Kosten von Washingtons neuem Kalten Krieg tragen.

Entgegen der oberflächlichen Einschätzung, dass die globale Inflation durch Russlands Krieg gegen die Ukraine und die westlichen Sanktionen gegen Russland verursacht wird, benennt No Cold War’s Briefing Nr. 2 die Wurzel der Krise: Es sind die Verzerrungen, die durch die Militärausgaben der USA und das Wall-Street-Dollar-IWF-Regime, das die Weltwirtschaft im Griff hat, verursacht werden.
Im Dezember 2021 sagte Georgieva vom IWF, dass die europäischen Regierungen nicht zulassen dürfen, dass die wirtschaftliche Erholung durch die «erstickende Kraft der Sparmaßnahmen» gefährdet wird. Dies ist Teil der erstaunlichen Doppelmoral des Westens: Gleichzeitig hat der IWF den Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas harte Sparmaßnahmen auferlegt. Wie Oxfam in einer neuen Analyse feststellt, hat der IWF im zweiten Jahr der Pandemie (von März 2021 bis März 2022) 23 Kredite an 22 Länder im Globalen Süden bewilligt – die alle entweder Sparmaßnahmen förderten oder forderten. Die IWF-Kreditvereinbarung mit Kenia in Höhe von 2,3 Mrd. USD sah beispielsweise ein vierjähriges Einfrieren der Löhne und Gehälter im öffentlichen Sektor sowie höhere Steuern auf Gas und Lebensmittel vor, während 63 Prozent der kenianischen Haushalte von mehrdimensionaler Armut betroffen sind, wie aus einem Bericht des Kenya Institute of Public Policy Research and Analysis (KIPPRA) hervorgeht.
Die Sparpolitik, die sich auf die breite Masse der Bevölkerung in diesen Ländern auswirkt, muss rückgängig gemacht werden. Wir brauchen weniger Geld für Kriege und mehr Geld für die Lösung dessen, was Frantz Fanon die hartnäckigen Tatsachen des menschlichen Lebens nannte, wie Hunger, Analphabetismus und Demütigung.

Langston Hughes konzentrierte sich in seiner Lyrik auf die Auswirkungen dieser «hartnäckigen Tatsachen» auf das Leben der Menschen in den Vereinigten Staaten, die gegen ein Leben kämpften, das auf Löhnen aufbaut, die «zwei Münzen minus zwei» entsprechen. Im Jahr 1962 gaben die Vereinigten Staaten 49 Milliarden Dollar für ihr Militär aus (431 Milliarden Dollar im Jahr 2022); im Jahr 2022, wie das Briefing Nr. 2 aufzeigt, will die US-Regierung 813 Milliarden Dollar für ihr Militär ausgeben, mehr als die Militärausgaben der nachfolgenden elf Länder zusammen.
Uns steht ein immenser gesellschaftlicher Reichtum zur Verfügung, der jedoch für die Bereiche des menschlichen Lebens ausgegeben wird, die mehr destruktiv als produktiv sind. Im Jahr 1962, als der US-Militärhaushalt immer weiter anstieg, schrieb Langston Hughes:
Ich bin es so leid, die Leute sagen zu hören,
Lasst die Dinge ihren Lauf nehmen.
Morgen ist ein neuer Tag.
Ich brauche meine Freiheit nicht, wenn ich tot bin.
Ich kann nicht von dem Brot von morgen leben.
Freiheit
Ist eine starke Saat
Gepflanzt
in großer Not.
Ich lebe auch hier.
Ich will meine Freiheit
Genau wie du.
Wir müssen dem Ziel der menschlichen Emanzipation jetzt näherkommen. Nicht morgen, sondern jetzt.
Herzlichst,
Vijay