Ich kann nicht vom Brot von morgen leben.

Der siebzehnte Newsletter (2022).

Taka­shi Mura­kami (Japan), Tan Tan Bo Puking — a.k.a. Gero Tan, 2002.

Liebe Freund*innen,

 

Grüße aus dem Büro von Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

Am 19. April veröf­fent­lichte der Inter­na­tio­nale Währungs­fonds (IWF) seinen jähr­li­chen World Econo­mic Outlook, in dem er eine starke Verlang­sa­mung des globa­len Wachs­tums und stei­gende Preise vorher­sagt. «Für 2022 wird eine Infla­tion von 5,7 Prozent in den fort­ge­schrit­te­nen Volks­wirt­schaf­ten und von 8,7 Prozent in den Schwel­len- und Entwick­lungs­län­dern prognos­ti­ziert – 1,8 bzw. 2,8 Prozent­punkte höher, als im Januar prognos­ti­ziert», heißt es in dem Bericht. Die Geschäfts­füh­rende Direk­to­rin des IWF, Kris­talina Geor­gieva, äußerte sich ernüch­ternd zu den Daten: «Die Infla­tion erreicht den höchs­ten Stand seit Jahr­zehn­ten. Stark gestie­gene Preise für Lebens­mit­tel und Dünge­mit­tel setzen Haus­halte welt­weit unter Druck – insbe­son­dere die ärms­ten. Und wir wissen, dass Lebens­mit­tel­kri­sen soziale Unru­hen auslö­sen können».

 

Was ist die Ursa­che für diese außer­ge­wöhn­li­che Infla­tion? US-Präsi­dent Joe Biden machte Russ­lands Krieg in der Ukraine dafür verant­wort­lich: «Was die Leute nicht wissen, ist, dass 70 Prozent des Infla­ti­ons­an­stiegs die Folge von [Russ­lands Präsi­dent Wladi­mir] Putins Preis­er­hö­hung aufgrund der Auswir­kun­gen auf die Ölpreise war». Doch selbst die Redak­tion des Wall Street Jour­nals stellte fest, dass «dies nicht Putins Infla­tion ist». Geor­gieva vom IWF versuchte, einen Mittel­weg zu finden, indem sie sagte, dass «Russ­lands Einmarsch in der Ukraine eine Krise in  einer bereits bestehen­den Krise geschaf­fen hat». Ihre Ansicht spie­gelt die des World Econo­mic Outlooks wider, in dem darauf hinge­wie­sen wird, dass sich «die Krise entwi­ckelt hat, während die Welt­wirt­schaft auf dem Weg der Besse­rung war, sich aber noch nicht voll­stän­dig von der COVID-19-Pande­mie erholt hat».

Beau­ford Delaney (USA), Exch­ange Place, 1943.

 

Die Platt­form No Cold War, mit der das Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch eng zusam­men­ar­bei­tet, hat einen sehr wich­ti­gen Beitrag zu dieser Debatte geleis­tet. Ihr Brie­fing Nr. 2The United States Has Desta­bi­li­sed the World Economy («Die Verei­nig­ten Staa­ten haben die Welt­wirt­schaft desta­bi­li­siert»), das weiter unten erscheint, legt dar, dass ein entschei­den­der Faktor in der gegen­wär­ti­gen Infla­ti­ons­krise der über­mä­ßige Einfluss der Verei­nig­ten Staa­ten auf die Welt­wirt­schaft ist; dabei spie­len die Mili­tär­aus­ga­ben der USA, der Anteil der Verei­nig­ten Staa­ten am welt­wei­ten Konsum, die Rolle des Wall Street-Dollar-IMF-Regimes und andere Fakto­ren eine Schlüs­sel­rolle. Wir hoffen, ihr findet das Brie­fing Nr. 2 nütz­lich und teilt es.

 

 

Der Inter­na­tio­nale Währungs­fonds hat bekannt gege­ben, dass sich die Welt­wirt­schafts­ent­wick­lung stark verlang­samt, und hat die Wachs­tums­aus­sich­ten von 143 Ländern herab­ge­stuft. Gleich­zei­tig haben die Infla­ti­ons­ra­ten ein histo­ri­sches Niveau erreicht. Welt­weit verar­men Hunderte von Millio­nen Menschen, vor allem im Globa­len Süden. Oxfam hat Alarm geschla­gen und verkün­det, dass wir «den tiefs­ten Absturz der Mensch­heit in extreme Armut und Leid seit Menschen­ge­den­ken» erle­ben. Was ist die Ursa­che für dieses uner­mess­li­che mensch­li­che Leid?

 

Eine Wirt­schafts­krise «Made in Washington»

 

Am 13. April behaup­tete die US-Finanz­mi­nis­te­rin Janet Yellen, dass diese welt­weite wirt­schaft­li­che Verschlech­te­rung auf den russi­schen Krieg in der Ukraine zurück­zu­füh­ren sei. Dies ist sach­lich falsch. Auch wenn der Konflikt die Lage verschlim­mert hat, ist der Haupt­grund für die Desta­bi­li­sie­rung der Welt­wirt­schaft die massive Infla­ti­ons­welle, die sich in den Verei­nig­ten Staa­ten aufge­baut hatte und nun auf die ganze Welt über­schwappt. Vor dem Krieg in der Ukraine hatte sich die Infla­tion in den USA in den letz­ten Jahren bereits von 2,5 % (Januar 2020) auf 7,5 % (Januar 2022) verdrei­facht und beschleu­nigte sich nach Ausbruch des Krie­ges weiter auf 8,5 % (März 2022).

 

«Dies ist nicht Putins Infla­tion», stellte die Redak­tion des Wall Street Jour­nals fest. «Diese Infla­tion wurde in Washing­ton gemacht».

 

Der US-Verbrau­cher­markt absor­biert ein Fünf­tel der welt­wei­ten Waren und Dienst­leis­tun­gen. Da die Nach­frage nach diesen Gütern das globale Ange­bot über­steigt, ist die Tendenz sehr hoch, dass sich die US-Infla­tion auf die ganze Welt ausbrei­tet. Der durch­schnitt­li­che Index des Commo­dity Rese­arch Bureau, ein allge­mei­ner Indi­ka­tor für globale Rohstoff­märkte, ist in astro­no­mi­sche Höhen geschnellt: Seit dem 25. April sind die Preise für Öl (60 %), Palmöl (60 %), Kaffee (56 %), Weizen (45 %), Erdgas (139 %) und Kohle (253 %) im Vergleich zum Vorjahr stark gestie­gen. Diese Preis­stei­ge­run­gen haben Schock­wel­len durch die Welt­wirt­schaft geschickt.

 

Diese Insta­bi­li­tät ist untrenn­bar mit der Wirt­schafts­po­li­tik der USA verbun­den. Seit 2020 haben die Verei­nig­ten Staa­ten ihr Haus­halts­bud­get um 2,8 Billio­nen US-Dollar erhöht. Um diese Haus­halts­aus­wei­tung zu finan­zie­ren, hat die US-Regie­rung die Kredit­auf­nahme auf 27 % des Brut­to­in­lands­pro­dukts (BIP) erhöht, und die Fede­ral Reserve Bank hat die Geld­menge (die Menge des ausge­ge­be­nen Geldes) im Vergleich zum Vorjahr um 27 % erhöht. Beide Erhö­hun­gen sind die höchs­ten in der Geschichte der USA in Friedenszeiten.

 

Diese riesi­gen US-Wirt­schafts­pa­kete wurden verab­schie­det, um Geld in die Hände der Verbraucher*innen zu brin­gen. Die US-Regie­rung konzen­trierte sich auf die Nach­fra­ge­seite der Wirt­schaft, indem sie Geld für Konsum in Umlauf brachte, aber sie erhöhte nicht die Ausga­ben auf der Ange­bots­seite der Wirt­schaft, indem sie Geld in Inves­ti­tio­nen steckte. Von 2019 bis 2021 entfie­len 98 % des BIP-Wachs­tums in den USA auf den Konsum und nur 2 % auf die Netto­in­ves­ti­tio­nen. Mit einem star­ken Anstieg der Verbrau­cher­nach­frage und fast keinem Anstieg des Ange­bots wuchs in den Verei­nig­ten Staa­ten eine riesige Inflationswelle.

 

Carmen Lomas Garza (USA), Tamalada, 1990.

 

Inves­ti­tio­nen in Waffen oder Menschen?

 

Die Infla­tion in den Verei­nig­ten Staa­ten mit ihren welt­wei­ten Auswir­kun­gen ist ein Neben­pro­dukt ihrer wirt­schaft­li­chen Prio­ri­tä­ten. In den letz­ten fünf­zig Jahren haben die US-Regie­run­gen den gesell­schaft­li­chen Reich­tum des Landes nicht für umfang­rei­che soziale Inves­ti­tio­nen in Berei­chen wie Bildung, Gesund­heits­we­sen und Infra­struk­tur genutzt und auch nicht in den Produk­ti­ons­sek­tor inves­tiert, um das Ange­bot zu erhö­hen. Um die Infla­tion in den Griff zu bekom­men, hat sich die Regie­rung statt­des­sen für ein Programm entschie­den, das die Nach­frage senkt. Diese Nach­fra­ge­sen­kun­gen haben bereits zu einer Senkung des Lebens­stan­dards geführt; so sind beispiels­weise die Real­löhne in den Verei­nig­ten Staa­ten im vergan­ge­nen Jahr um 2,7 % gesunken.

 

Anstatt soziale Inves­ti­tio­nen zu täti­gen, die einen solchen wirt­schaft­li­chen Abschwung verhin­dern, hat die US-Regie­rung dem Mili­tär Vorrang einge­räumt, dessen Budget jedes Jahr erhöht wird. Für 2022 hat die Regie­rung Biden einen Mili­tär­haus­halt von 813 Milli­ar­den Dollar vorge­schla­gen, was einer Stei­ge­rung von 9,2 % gegen­über dem Mili­tär­haus­halt von 2021 entspricht – mehr als die elf Länder mit den nächst­höchs­ten Ausga­ben zusam­men. Um diese massi­ven Ausga­ben zu recht­fer­ti­gen, beruft sich die Biden-Regie­rung, wie schon die Trump-Regie­rung zuvor, auf die Notwen­dig­keit, die von China und Russ­land ausge­hen­den «Bedro­hun­gen» zu bekämpfen.

 

Eine Senkung der US-Mili­tär­aus­ga­ben würde staat­li­che Mittel frei­set­zen, um in Bildung, Gesund­heits­we­sen, Infra­struk­tur und Produk­tion zu inves­tie­ren. Dies würde jedoch einen Wandel in der US-Außen­po­li­tik erfor­dern, der nicht in Sicht ist. Bis dahin müssen die Menschen in den Verei­nig­ten Staa­ten und ande­ren Ländern die Kosten von Washing­tons neuem Kalten Krieg tragen.

 

Joseph Bertiers (Kenia), The Bar, 2020.

 

Entge­gen der ober­fläch­li­chen Einschät­zung, dass die globale Infla­tion durch Russ­lands Krieg gegen die Ukraine und die west­li­chen Sank­tio­nen gegen Russ­land verur­sacht wird, benennt No Cold War’s Brie­fing Nr. 2 die Wurzel der Krise: Es sind die Verzer­run­gen, die durch die Mili­tär­aus­ga­ben der USA und das Wall-Street-Dollar-IWF-Regime, das die Welt­wirt­schaft im Griff hat, verur­sacht werden.

 

Im Dezem­ber 2021 sagte Geor­gieva vom IWF, dass die euro­päi­schen Regie­run­gen nicht zulas­sen dürfen, dass die wirt­schaft­li­che Erho­lung durch die «ersti­ckende Kraft der Spar­maß­nah­men» gefähr­det wird. Dies ist Teil der erstaun­li­chen Doppel­mo­ral des Westens: Gleich­zei­tig hat der IWF den Ländern Afri­kas, Asiens und Latein­ame­ri­kas harte Spar­maß­nah­men aufer­legt. Wie Oxfam in einer neuen Analyse fest­stellt, hat der IWF im zwei­ten Jahr der Pande­mie (von März 2021 bis März 2022) 23 Kredite an 22 Länder im Globa­len Süden bewil­ligt – die alle entwe­der Spar­maß­nah­men förder­ten oder forder­ten. Die IWF-Kredit­ver­ein­ba­rung mit Kenia in Höhe von 2,3 Mrd. USD sah beispiels­weise ein vier­jäh­ri­ges Einfrie­ren der Löhne und Gehäl­ter im öffent­li­chen Sektor sowie höhere Steu­ern auf Gas und Lebens­mit­tel vor, während 63 Prozent der kenia­ni­schen Haus­halte von mehr­di­men­sio­na­ler Armut betrof­fen sind, wie aus einem Bericht des Kenya Insti­tute of Public Policy Rese­arch and Analy­sis (KIPPRA) hervor­geht.

 

Die Spar­po­li­tik, die sich auf die breite Masse der Bevöl­ke­rung in diesen Ländern auswirkt, muss rück­gän­gig gemacht werden. Wir brau­chen weni­ger Geld für Kriege und mehr Geld für die Lösung dessen, was Frantz Fanon die hart­nä­cki­gen Tatsa­chen des mensch­li­chen Lebens nannte, wie Hunger, Analpha­be­tis­mus und Demütigung.

 

 

Lang­ston Hughes konzen­trierte sich in seiner Lyrik auf die Auswir­kun­gen dieser «hart­nä­cki­gen Tatsa­chen» auf das Leben der Menschen in den Verei­nig­ten Staa­ten, die gegen ein Leben kämpf­ten, das auf Löhnen aufbaut, die «zwei Münzen minus zwei» entspre­chen. Im Jahr 1962 gaben die Verei­nig­ten Staa­ten 49 Milli­ar­den Dollar für ihr Mili­tär aus (431 Milli­ar­den Dollar im Jahr 2022); im Jahr 2022, wie das Brie­fing Nr. 2 aufzeigt, will die US-Regie­rung 813 Milli­ar­den Dollar für ihr Mili­tär ausge­ben, mehr als die Mili­tär­aus­ga­ben der nach­fol­gen­den elf Länder zusammen.

 

Uns steht ein immenser gesell­schaft­li­cher Reich­tum zur Verfü­gung, der jedoch für die Berei­che des mensch­li­chen Lebens ausge­ge­ben wird, die mehr destruk­tiv als produk­tiv sind. Im Jahr 1962, als der US-Mili­tär­haus­halt immer weiter anstieg, schrieb Lang­ston Hughes:

 

Ich bin es so leid, die Leute sagen zu hören,

Lasst die Dinge ihren Lauf nehmen.

Morgen ist ein neuer Tag.

Ich brau­che meine Frei­heit nicht, wenn ich tot bin.

Ich kann nicht von dem Brot von morgen leben.

            Freiheit

            Ist eine starke Saat

            Gepflanzt

            in großer Not.

            Ich lebe auch hier.

            Ich will meine Freiheit

            Genau wie du. 

 

Wir müssen dem Ziel der mensch­li­chen Eman­zi­pa­tion jetzt näher­kom­men. Nicht morgen, sondern jetzt.

 

Herz­lichst,

 

Vijay



Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.