Dies ist nicht das Zeitalter für Gewissheit. Es ist die Zeit der Widersprüche.
Der vierzehnte Newsletter (2022).
Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro des Tricontinental: Institute for Social Research.
Es ist schwer, die Abgründe unserer Zeit zu ergründen, die schrecklichen Kriege und die verwirrenden Informationen, die an uns vorbeirauschen, ohne dass wir daraus nennenswerte Einsichten gewinnen könnten. Gewissheiten, die den Äther und das Internet überschwemmen, sind leicht zu finden, aber gründen sie auf einer ehrlichen Einschätzung des Krieges in der Ukraine und der Sanktionen gegen russische Banken (die Teil einer umfassenderen Sanktionspolitik der Vereinigten Staaten sind, von der inzwischen etwa dreißig Länder betroffen sind)? Erkennen sie die entsetzliche Realität des Hungers an, der durch diesen Krieg und die Sanktionen zugenommen hat? Es scheint, dass ein Großteil der «Gewissheiten» in einer Mentalität des Kalten Krieges verhaftet ist, die die Menschheit als unumkehrbar in zwei gegnerische Seiten gespalten sieht. Dies ist jedoch nicht der Fall; die meisten Länder bemühen sich um einen bündnisfreien Ansatz für den von den USA auferlegten «neuen Kalten Krieg». Der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine ist ein Symptom für breitere geopolitische Kämpfe, die seit Jahrzehnten ausgetragen werden.
Am 26. März definierte US-Präsident Joe Biden im Königsschloss in Warschau (Polen) einige Gewissheiten aus seiner Sicht und nannte den Krieg in der Ukraine «einen Kampf zwischen Demokratie und Autokratie, zwischen Freiheit und Unterdrückung, zwischen einer auf Regeln basierenden Ordnung und einer, die von roher Gewalt beherrscht wird». Diese Zweiteilung ist ein reines Hirngespinst des Weißen Hauses, dessen Einstellung zu einer «auf Regeln basierenden Ordnung» nicht in der UN-Charta, sondern in «Regeln» begründet ist, die die USA festlegen. Bidens Antinomien gipfelten in einem politischen Ziel: «Um Gottes willen, dieser Mann darf nicht an der Macht bleiben», sagte er und meinte damit den russischen Präsidenten Wladimir Putin. Die Engstirnigkeit von Bidens Herangehensweise an den Konflikt in der Ukraine hat zu einem öffentlichen Aufruf zum Regimewechsel in Russland geführt, einem Land mit 146 Millionen Einwohnern, dessen Regierung über 6.255 Atomsprengköpfe verfügt. Angesichts der gewalttätigen Geschichte der USA bei der Kontrolle der Führung in mehreren Ländern können unbedachte Äußerungen über einen Regimewechsel nicht unbeantwortet bleiben. Sie müssen universell angefochten werden.
Die Hauptachse des russischen Krieges ist nicht die Ukraine, auch wenn sie heute die Hauptlast des Krieges trägt. Es geht darum, ob es Europa erlaubt wird, unabhängig von den USA und ihrer nordatlantischen Agenda eigene Projekte zu verwirklichen. Vom Zusammenbruch der UdSSR (1991) bis zur weltweiten Finanzkrise (2007–08) bemühten sich Russland, die neuen postsowjetischen Republiken (einschließlich der Ukraine) und andere osteuropäische Staaten um eine Integration in das europäische System, einschließlich der Nordatlantikvertragsorganisation (NATO). Russland trat 1994 dem NATO-Programm «Partnerschaft für den Frieden» bei, und sieben osteuropäische Staaten (darunter Estland und Lettland, die an Russland grenzen) wurden 2004 NATO-Mitglieder. Während der globalen Finanzkrise wurde deutlich, dass die Integration in das europäische Projekt aufgrund der Schwachstellen in Europa nicht in vollem Umfang möglich sein würde.
Auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2007 stellte Präsident Wladimir Putin den Versuch der USA in Frage, eine unipolare Welt zu schaffen. «Was ist eine unipolare Welt?», fragte Putin. «Egal, wie wir diesen Begriff beschönigen, er bedeutet ein einziges Machtzentrum, ein einziges Kraftzentrum und einen einzigen Herrscher». Unter Bezugnahme auf den Ausstieg der USA aus dem Vertrag zur Bekämpfung ballistischer Raketen im Jahr 2002 (den er damals kritisiert hatte) und den illegalen Irakkrieg der USA im Jahr 2003 sagte Putin: «Niemand fühlt sich mehr sicher, weil sich niemand hinter dem Völkerrecht verstecken kann.» Später, auf dem NATO-Gipfel 2008 in Bukarest (Rumänien), warnte Putin vor den Gefahren der NATO-Osterweiterung und sprach sich gegen den Beitritt Georgiens und der Ukraine zu dem Militärbündnis aus. Im darauf folgenden Jahr schloss sich Russland mit Brasilien, China, Indien und Südafrika zusammen, um den BRICS-Block als Alternative zur westlich geprägten Globalisierung zu bilden.
Seit Generationen ist Europa auf Erdgas- und Erdölimporte aus der UdSSR und später Russland angewiesen. Diese Abhängigkeit von Russland hat in dem Maße zugenommen, wie die europäischen Länder versucht haben, aus der Nutzung von Kohle und Kernenergie auszusteigen. Gleichzeitig haben sich Polen (2015) und Italien (2019) der von China geführten Belt and Road Initiative (BRI) angeschlossen. Zwischen 2012 und 2019 gründete die chinesische Regierung außerdem die 17+1‑Initiative, die siebzehn mittel- und osteuropäische Länder in das BRI-Projekt einbindet. Die Integration Europas in Eurasien öffnete die Tür für seine außenpolitische Unabhängigkeit. Dies wurde jedoch nicht zugelassen. Die gesamte Finte der «globalen NATO», die 2008 von NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer formuliert wurde, diente dazu, diese Entwicklung zu verhindern.
Aus Angst vor den großen Veränderungen in Eurasien wurden die USA an den kommerziellen und diplomatisch-militärischen Fronten aktiv. Auf kommerzieller Ebene versuchten sie, die Abhängigkeit Europas von russischem Erdgas zu ersetzen, indem sie versprachen, Europa mit verflüssigtem Erdgas (LNG) zu versorgen, das sowohl von US-Lieferanten als auch von arabischen Golfstaaten stammen sollte. Da LNG weitaus teurer ist als Pipelinegas, war dies kein verlockendes Geschäft. Die Anfechtung chinesischer Fortschritte bei Hightech-Lösungen — insbesondere in den Bereichen Telekommunikation, Robotik und grüne Energie — konnte von Silicon-Valley-Firmen nicht aufrechterhalten werden, so dass die USA zwei weitere Instrumente der Gewalt einsetzten: erstens die Instrumentalisierung der Rhetorik des Krieges gegen den Terror, um chinesische Firmen (unter Berufung auf Sicherheits- und Datenschutzerwägungen) zu verbieten, und zweitens diplomatische und militärische Manöver, um das russische Stabilitätsgefühl in Frage zu stellen.
Die Strategie der USA war nicht ganz erfolgreich. Die europäischen Länder erkannten, dass es keinen wirklichen Ersatz für russische Energie und chinesische Investitionen gab. Ein Verbot der Telekommunikationsinstrumente von Huawei und die Verhinderung der Zertifizierung von NordStream 2 würden den Menschen in Europa nur schaden. Das war klar. Nicht so klar war jedoch die Tatsache, dass die USA gleichzeitig damit begonnen hatten, das Gerüst abzubauen, welches das Vertrauen darin stützte, dass kein Land einen Atomkrieg beginnen würde. Im Jahr 2002 kündigten die USA einseitig den Vertrag über den Schutz vor ballistischen Flugkörpern, und 2018/19 verließen sie den INF-Vertrag (Intermediate-Range Nuclear Forces). Die europäischen Länder spielten 1987 durch die Bewegung für das Einfrieren von Atomwaffen eine Schlüsselrolle bei der Verabschiedung des INF-Vertrags, aber der Ausstieg aus dem Vertrag 2018/19 wurde von den Europäer*innen mit relativem Schweigen aufgenommen. Im Jahr 2018 verlagerte sich der Schwerpunkt der nationalen Sicherheitsstrategie der USA vom globalen Krieg gegen den Terror auf die Verhinderung des «Wiederauftretens eines langfristigen strategischen Wettbewerbs» durch «beinahe ebenbürtige Rivalen» wie China und Russland. Gleichzeitig begannen die europäischen Staaten, im Rahmen der NATO in der Ostsee, in der Arktis und im Südchinesischen Meer Übungen im Namen der «Freiheit der Schifffahrt» durchzuführen, die für China und Russland als eine bedrohliche Botschaft aufgefasst wurden. Diese Maßnahmen brachten China und Russland tatsächlich sehr nahe zusammen.
Russland hat bei mehreren Gelegenheiten angedeutet, dass es diese Taktik durchschaut und seine Grenzen und seine Region mit Gewalt verteidigen wird. Als die USA 2012 in Syrien und 2014 in der Ukraine intervenierten, drohte Russland dadurch der Verlust seiner beiden wichtigsten Warmwasserhäfen (in Latakia, Syrien, und Sewastopol, Krim), weshalb Russland 2014 die Krim annektierte und 2015 militärisch in Syrien intervenierte. Diese Aktionen zeigten, dass Russland weiterhin sein Militär einsetzen würde, um zu schützen, was es als seine nationalen Interessen versteht. Dann legte die Ukraine den Kanal im Norden der Krim still, der die Halbinsel zu 85 % mit Wasser versorgte, und zwang Russland, die Region über die Brücke über die Straße von Kertsch mit Wasser zu versorgen, die zwischen 2016 und 2019 mit enormen Kosten gebaut wurde. Russland brauchte keine «Sicherheitsgarantien» von der Ukraine und auch nicht von der NATO, aber es wollte sie von den Vereinigten Staaten. In Moskau befürchtete man, dass die USA atomare Mittelstreckenraketen um Russland herum aufstellen würde.
Vor dem Hintergrund dieser jüngeren Geschichte sind die Reaktionen u. a. Deutschlands, Japans und Indiens widersprüchlich. Jedes dieser Länder ist auf russisches Erdgas und Erdöl angewiesen. Sowohl Deutschland als auch Japan haben Sanktionen gegen russische Banken verhängt, aber weder der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz noch der japanische Premierminister Fumio Kishida können die Energieimporte streichen. Indien weigert sich, sich der Verurteilung Russlands und den Sanktionen gegen seinen Bankensektor anzuschließen, obwohl es zusammen mit Japan zu der von den USA unterstützten Quad gehört. Diese Länder müssen mit den Widersprüchen unserer Zeit umgehen und die Unwägbarkeiten abwägen. Kein Staat sollte die so genannten «Gewissheiten» akzeptieren, die die Dynamik des Kalten Krieges verstärken, noch dürfen die gefährlichen Folgen eines von außen beeinflussten Regimewechsels und Chaos unbeachtet bleiben.
Es ist immer eine gute Idee, über den stillen Zauber der Gedichte von Tōge Sankichi nachzudenken, der 1945 den Atombombenabwurf auf seine Heimatstadt Hiroshima miterlebte und später der Kommunistischen Partei Japans beitrat, um für den Frieden zu kämpfen. In seinem «Aufruf zum Handeln» schrieb Sankichi:
Streckt diese grotesken Arme aus
zu den vielen ähnlichen Armen
und wenn es scheint, dass der Blitz wieder fällt,
haltet die verfluchte Sonne hoch:
Auch jetzt ist es noch nicht zu spät.
Herzlichst,
Vijay