Chinas historische Bestimmung ist es, an der Seite der Dritten Welt zu stehen.
Der dreizehnte Newsletter (2023)
Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro von Tricontinental: Institute for Social Research.
Am 20. März 2023 führten Chinas Präsident Xi Jinping und Russlands Präsident Wladimir Putin ein mehr als vierstündiges Gespräch unter vier Augen. Offiziellen Erklärungen nach dem Treffen zufolge sprachen die beiden Staatsoberhäupter über die wachsende wirtschaftliche und strategische Partnerschaft zwischen China und Russland – einschließlich des Baus der Pipeline «Power of Siberia 2» – und die chinesische Friedensinitiative für den Krieg in der Ukraine. Putin sagte, dass «viele der Bedingungen des von China vorgelegten Friedensplans mit den russischen Ansätzen übereinstimmen und als Grundlage für eine friedliche Lösung dienen können, sobald der Westen und Kiew dazu bereit sind».
Diese Schritte in Richtung Frieden sind in Washington keineswegs auf offene Ohren gestoßen. Im Vorfeld des Besuchs von Xi in Moskau erklärte John Kirby, der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats der USA, dass jeder «Aufruf zu einem Waffenstillstand» in der Ukraine durch China und Russland «inakzeptabel» sei. Als Einzelheiten des Treffens bekannt wurden, ließen US-Beamte Berichten zufolge verlauten, dass sie sich davor fürchten, dass die Bemühungen Chinas und Russlands um eine friedliche Lösung und ein Ende des Krieges von der Weltgemeinschaft unterstützt werden könnten. Die atlantischen Mächte verstärken in der Tat ihre Bemühungen, den Konflikt in die Länge zu ziehen.
Am Tag des Treffens zwischen Xi und Putin erklärte die britische Staatsministerin im Verteidigungsministerium, Baroness Annabel Goldie, vor dem Oberhaus, dass «wir der Ukraine nicht nur eine Staffel Challenger-2-Kampfpanzer zur Verfügung stellen, sondern auch Munition, darunter uranangereicherte Panzerabwehrgeschosse». Goldies Erkärung erfolgte am Jahrestag der US-amerikanisch-britischen Invasion im Irak, bei der der Westen angereichertes Uran mit verheerender Wirkung gegen die irakische Bevölkerung einsetzte. In Bezug auf die Lieferung von Uranmunition durch das Vereinigte Königreich an die ukrainischen Streitkräfte sagte Putin: «Es scheint, dass der Westen wirklich beschlossen hat, Russland bis zum letzten Ukrainer zu bekämpfen – nicht mehr mit Worten, sondern mit Taten». Daraufhin erklärte Putin, dass Russland taktische Atomwaffen in Weißrussland stationieren werde.
Innerhalb Chinas wurde Xis Besuch in Russland mit einem allgemeinen Gefühl des Stolzes kommentiert – Stolz darüber, dass Chinas Regierung die Führung übernimmt, um sowohl die Ambitionen des Westens zu blockieren als auch Frieden in dem Konflikt zu suchen. Diese Diskussionen, die sich in Zeitschriften und auf Social-Media-Plattformen wie WeChat, Douyin, Weibo, LittleRedBook, Bilibili und Zhihu widerspiegelten, betonten, dass China als ein Entwicklungsland dennoch in der Lage war, seine Beschränkungen zu überwinden und eine Führungsposition in der Welt einzunehmen.
Diese Diskussionen innerhalb Chinas sind für Menschen außerhalb des Landes aus mindestens drei Gründen weitgehend unzugänglich: Erstens finden sie auf Chinesisch statt und werden kaum in andere Sprachen übersetzt; zweitens finden sie auf Social-Media-Plattformen statt, die nicht nur auf Chinesisch sind, sondern auch nicht von Menschen außerhalb der chinesischsprachigen Gemeinschaft genutzt werden; und drittens hat die wachsende Sinophobie, die aus einer langjährigen kolonialen Denkgeschichte herrührt und durch den Neuen Kalten Krieg noch verschärft wurde, die Missachtung von Diskussionen in China, die nicht die westliche Weltsicht übernehmen, noch verstärkt. Aus diesen und anderen Gründen herrscht ein tatsächlicher Mangel an Verständnis für das Spektrum an Meinungen, die es in China gibt in Bezug auf die Veränderungen in der Weltordnung und die Rolle des Landes bei diesen Veränderungen.
In China gibt es eine reiche Tradition intellektueller Debatten, die in Zeitschriften geführt werden, die auf die eine oder andere Weise von Chen Duxius Xīn Qīngnián («Neue Jugend») inspiriert wurden, die erstmals 1915 erschien. In der ersten Ausgabe dieser Zeitschrift veröffentlichte Chen (1879–1942), der ein Gründungsmitglied der Kommunistischen Partei Chinas war, einen Brief an die Jugend, der eine Liste von Ermahnungen enthielt, die die intellektuelle Agenda der nächsten hundert Jahre bestimmen sollte:
Sei unabhängig und nicht versklavt (自主的而非奴隶的)
Sei Progressiv und nicht konservativ (进步的而非保守的)
Steh an der Spitze und hinke nicht hinterher (进取的而非退隐的)
Sei internationalistisch und nicht isolationistisch (世界的而非锁国的)
Sei praktisch und nicht rhetorisch (实利的而非虚文的)
Sei wissenschaftlich und nicht abergläubisch (科学的而非想象的)
Das Modell der Neuen Jugend bewirkte die Gründung einer Zeitschrift nach der anderen, jede mit dem Ziel, angemessenere Theorien über die Entwicklungen in China zu entwickeln, die darauf abzielen, die Souveränität des Landes zu etablieren und es aus dem sogenannten «Jahrhundert der Demütigung» (百年屈辱) herauszuholen, einer Periode, die durch westliche und japanische imperialistische Interventionen gekennzeichnet war. Im Jahr 2008 gründeten mehrere führende Intellektuelle des Landes eine neue Zeitschrift, Wenhua Zongheng (文化纵横), die sich zunehmend zu einer Plattform für Debatten über das entwickelt hat, was Xi die «große Verjüngung der chinesischen Nation» nannte (中华民族伟大复兴). In der zweimonatlich erscheinenden Zeitschrift kommen führende Persönlichkeiten des Landes zu Wort, die sich aus verschiedenen Blickwinkeln zu wichtigen aktuellen Themen äußern, etwa zum Zustand der Welt nach der COVID-19-Krise oder zur Bedeutung der Wiederbelebung des ländlichen Raums.
Im vergangenen Jahr begannen Tricontinental: Institute for Social Research und Dongsheng ein Gespräch mit den Herausgebern von Wenhua Zongheng, das zur Produktion einer vierteljährlichen internationalen Ausgabe der Zeitschrift führte. Im Rahmen dieser Partnerschaft werden ausgewählte Aufsätze aus den chinesischen Ausgaben der Zeitschrift ins Englische, Portugiesische und Spanische übersetzt, und die chinesische Ausgabe enthält eine zusätzliche Kolumne, die Stimmen aus Afrika, Asien und Lateinamerika in den Dialog mit China bringt. Wir sind stolz darauf, dass die erste Ausgabe dieser internationalen Ausgabe (Bd. 1, Nr. 1) mit dem Thema «An der Schwelle zu einer neuen internationalen Ordnung» diese Woche erschienen ist.
Diese Ausgabe enthält drei Aufsätze von führenden Wissenschaftlern in China – Yang Ping (Herausgeber von Wenhua Zongheng), Yao Zhongqiu (Professor an der School of International Studies und Leiter des Center for Historical Political Studies, Renmin-Universität China) und Cheng Yawen (Dekan der Abteilung für Politikwissenschaft an der School of International Relations and Public Affairs, Shanghai International Studies University) sowie meinen kurzen Leitartikel. Die beiden Professoren Yao und Cheng erörtern die Veränderungen in der gegenwärtigen internationalen Ordnung, insbesondere den Niedergang der Unipolarität der USA und das Aufkommen des Regionalismus. Professor Yao vertritt in seinem Beitrag, der bis in die Ming-Dynastie (1388–1644) zurückreicht, die Auffassung, dass die heute stattfindenden Veränderungen nicht notwendigerweise die Schaffung einer neuen Ordnung sind, sondern die Rückkehr zu einem ausgewogeneren Weltsystem, da China seinen Platz in der Welt «zurückerobert» und die Ambitionen der USA durch das Entstehen von Schlüsselländern in den Entwicklungsländern, darunter China, Indien und Brasilien, an ihre Grenzen stoßen.
In allen drei Aufsätzen geht es um die Rolle Chinas in der Dritten Welt, sowohl in wirtschaftlicher Hinsicht (z.B. in Bezug auf die zehnjährige Belt-and-Road-Initiative oder BRI) als auch in politischer Hinsicht (z.B. in Bezug auf Chinas Versuch, den Friedensprozess in der Ukraine wieder in Gang zu bringen). Herausgeber Yang Ping ist der festen Überzeugung, dass «Chinas historische Bestimmung darin besteht, an der Seite der Dritten Welt zu stehen», weil China trotz seiner großen Fortschritte ein Entwicklungsland bleibe und weil Chinas Beharren auf Multilateralismus, wie Professor Cheng argumentiert, bedeute, dass es nicht versucht, die USA zu verdrängen und ein neuer globaler Hegemon zu werden. Yang schließt seinen Bericht mit drei Überlegungen: Erstens, dass sich China nicht nur von kommerziellen Interessen leiten lassen dürfe, sondern «dem Vorrang einräumen müsse, was notwendig ist, um das strategische Überleben und die nationale Entwicklung zu sichern»; zweitens, dass China in die Debatten über das neue internationale System eingreifen müsse, indem es die BRI-Prinzipien «Konsultation, Beitrag und gemeinsamer Nutzen» einführe, zu denen auch das Bestreben gehöre, die Zone des Friedens gegen die Praktiken des Krieges zu erweitern; und drittens, dass China die Schaffung eines institutionellen Mechanismus jenseits der wirtschaftlichen Zusammenarbeit – wie etwa einer «Entwicklungsinternationale» — fördern müsse, um die echte Souveränität der Nationen, die Würde der Völker, die mit der Schulden- und Sparfalle des Internationalen Währungsfonds konfrontiert sind, und einen neuen Internationalismus zu unterstützen.
Die Perspektiven von Yang, Yao und Chen sind eine unverzichtbare Lektüre im Kontext einer wichtigen Initiative für den globalen Dialog. Wir freuen uns auf euer Feedback zur ersten internationalen Ausgabe von Wenhua Zongheng und arbeiten derzeit an der zweiten Ausgabe, die sich mit Chinas Weg zur Modernisierung befassen wird.Da die Vereinigten Staaten auf einen Großmachtkonflikt im asiatisch-pazifischen Raum drängen, ist es von entscheidender Bedeutung, Kommunikationslinien zu entwickeln und Brücken zum gegenseitigen Verständnis zwischen China, dem Westen und den Entwicklungsländern zu bauen. Wie ich am Ende meines Leitartikels schrieb, besteht unsere Aufgabe darin, anstelle der globalen Spaltung, die der Neue Kalte Krieg anstrebt, voneinander zu lernen, um eine Welt der Zusammenarbeit statt der Konfrontation zu schaffen.
Herzlichst,
Vijay