Schlägst du die Frauen, schlägst du den Fels, wirst du zerschmettert! 

Der zwölfte Newsletter (2023)

Arnold Böck­lin (Schweiz), Die Toten­in­sel, 1880

Liebe Freund*innen

 

Grüße aus dem Büro von Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

Was ist eine Krise, die welt­weite Aufmerk­sam­keit verdient? Wenn eine regio­nale Bank in den Verei­nig­ten Staa­ten der Umkeh­rung der Rendi­te­kurve zum Opfer fällt (d. h. wenn die kurz­fris­ti­gen Anlei­he­zin­sen höher sind als die lang­fris­ti­gen Zinsen), hört die Erde fast auf, sich zu drehen. Der Zusam­men­bruch der Sili­con Valley Bank (SVB) – einer der wich­tigs­ten Finan­ziers von Tech­no­lo­gie-Start-Ups in den Verei­nig­ten Staa­ten – am 10. März war Vorbote eines größe­ren Chaos in der west­li­chen Finanz­welt. In den Tagen nach dem SVB-Deba­kel stand die Signa­ture Bank, eine der weni­gen Banken, die Kryp­to­wäh­rungs­ein­la­gen akzep­tier­ten, vor dem Bank­rott, und dann stürzte die Credit Suisse – eine etablierte euro­päi­sche Bank, 1856 gegrün­det – aufgrund ihres seit langem schlech­ten Risi­ko­ma­nage­ments ab (am 19. März stimmte die UBS zu, die Credit Suisse  zu über­neh­men, als Notlö­sung um die Krise zu stop­pen).  Staats­re­gie­run­gen hiel­ten Notfall-Zoom-Konfe­ren­zen ab, Finanz­ti­ta­nen riefen die Chefs und Chefin­nen von Zentral­ban­ken und Staa­ten an, und die Zeitun­gen warn­ten vor einem System­zu­sam­men­bruch, wenn nicht rasch Sicher­heits­netze unter die gesamte Finanz­ar­chi­tek­tur gespannt würden. Inner­halb weni­ger Stun­den stell­ten west­li­che Regie­run­gen und Zentral­ban­ken Milli­ar­den von Dollar zur Rettung des Finanz­sys­tems bereit. Eine Eska­la­tion der Krise durfte nicht zuge­las­sen werden.

 

Andere schwer­wie­gende Entwick­lun­gen in der Welt könn­ten als Krise bezeich­net werden, aber sie lösen nicht die Art von Sofort­maß­nah­men aus, wie sie von den west­li­chen Regie­run­gen zur Stüt­zung ihrer Bank­sys­teme ergrif­fen wurden. Vor drei Jahren veröf­fent­lichte Oxfam einen Bericht, in dem fest­ge­stellt wurde, dass «die 22 reichs­ten Männer der Welt mehr Vermö­gen besit­zen als alle Frauen in Afrika zusam­men». Diese Tatsa­che, die scho­ckie­ren­der ist als der Zusam­men­bruch einer Bank, hat keine Bewe­gung in die Tages­ord­nung gebracht, obwohl belegt ist, dass diese Ungleich­heit größ­ten­teils durch die räube­ri­schen, dere­gu­lier­ten Kredit­ver­ga­be­prak­ti­ken des west­li­chen Banken­sys­tems verur­sacht wird (wie wir in unse­rem April-Dossier, Life or Debt: The Strang­le­hold of Neoco­lo­nia­lism and Africa’s Search for Alter­na­ti­ves [«Leben oder Schul­den: Der Würge­griff des Neoko­lo­nia­lis­mus und Afri­kas Suche nach Alter­na­ti­ven»], zeigen werden).


Die Veröf­fent­li­chung eines wich­ti­gen Berichts im Januar dieses Jahres über den Rück­schritt bei der Erfül­lung der Ziele für nach­hal­tige Entwick­lung der Verein­ten Natio­nen (Sustainable Deve­lo­p­ment Goals, kurz SDGs) auf dem afri­ka­ni­schen Konti­nent wurde mit Schwei­gen quit­tiert. Der von der Afri­ka­ni­schen Union, der UN-Wirt­schafts­kom­mis­sion für Afrika, der Afri­ka­ni­schen Entwick­lungs­bank und dem UN-Entwick­lungs­pro­gramm erstellte Bericht über die nach­hal­tige Entwick­lung Afri­kas 2022 zeigt, dass die afri­ka­ni­schen Länder aufgrund der fehlen­den Entwick­lungs­fi­nan­zie­rung nicht ansatz­weise in der Lage sein werden, die extreme Armut zu besei­ti­gen. Vor der COVID-19-Pande­mie lebten 445 Millio­nen Menschen auf dem Konti­nent – 34 % der Bevöl­ke­rung – in extre­mer Armut, und bis 2020 kamen weitere 30 Millio­nen Menschen hinzu. Der Bericht schätzt, dass die Zahl der Menschen in extre­mer Armut auf dem Konti­nent bis 2030 auf 492 Millio­nen anstei­gen wird. Keine einzige Alarm­glo­cke wurde ange­sichts dieser fort­schrei­ten­den Kata­stro­phe geläu­tet, geschweige denn, dass schnell Milli­ar­den Dollar zur Rettung der afri­ka­ni­schen Bevöl­ke­rung bereit­ge­stellt worden wären.

Alex­an­der Skun­der Boghos­sian (Äthio­pien), The End of the Begin­ning, 1972–1973.

Der Inter­na­tio­nale Währungs­fonds (IWF) hat fest­ge­stellt, dass Frauen in Afrika mit größe­rer Wahr­schein­lich­keit von der Pande­mie betrof­fen sind. Die Daten, so der IWF, werden durch die weit verbrei­tete Selbst­stän­dig­keit von Frauen verschlei­ert, deren wirt­schaft­li­che Schwie­rig­kei­ten nicht immer in den natio­na­len Statis­ti­ken erschei­nen. In ganz Afrika sind im vergan­ge­nen Jahr Hundert­tau­sende von Menschen auf die Straße gegan­gen, um ihre Regie­run­gen mit der Lebens­hal­tungs­kos­ten­krise zu konfron­tie­ren, die das Einkom­men der meis­ten Menschen schwin­den lassen hat. In dem Maße, wie die Einkom­men sinken und die sozia­len Dienste zusam­men­bre­chen, über­neh­men die Frauen immer mehr Arbeit in ihren Haus­hal­ten – sie kümmern sich um die Kinder, die Älte­ren, die Kran­ken, die Hungern­den und so weiter. In dem von einer panafri­ka­ni­schen femi­nis­ti­schen Platt­form verfass­ten Afri­can Femi­nist Post-COVID-19 Econo­mic Reco­very State­ment wird die Situa­tion wie folgt bewer­tet:

 

Das Fehlen sozia­ler Sicher­heits­netze, die Frauen aufgrund ihrer größe­ren finan­zi­el­len Unsi­cher­heit ange­sichts wirt­schaft­li­cher Schocks benö­ti­gen, hat das Versa­gen einer Entwick­lung offen­bart, die Produk­ti­vi­tät für Wachs­tum Vorrang einräumt vor dem Wohl­erge­hen der afri­ka­ni­schen Bevöl­ke­rung. COVID-19 hat deut­lich gemacht, worauf Feminist*innen seit langem hinwei­sen: dass die in der Wirt­schaft und auf den Märk­ten erziel­ten Gewinne durch die unbe­zahlte Pflege- und Haus­ar­beit von Frauen subven­tio­niert werden – eine wesent­li­che Dienst­leis­tung, die selbst in der aktu­el­len Pande­mie nicht aner­kannt und in der Poli­tik nicht berück­sich­tigt wurde.

Nike Davies-Okun­daye (Nige­ria), Beauty Is Ever­y­where, 2013.

Am 8. März, dem Inter­na­tio­na­len Tag der arbei­ten­den Frauen, haben Proteste in ganz Afrika die Aufmerk­sam­keit auf den allge­mei­nen Rück­gang des Lebens­stan­dards und die beson­de­ren Auswir­kun­gen auf das Leben der Frauen gelenkt. Der aufrüt­telnde Befund von Oxfam – die 22 reichs­ten Männer der Welt haben mehr Vermö­gen als alle Frauen Afri­kas zusam­men – und die Erkennt­nis, dass sich die Lebens­be­din­gun­gen dieser Frauen zu verschlech­tern begin­nen, haben in der Welt keine Krisen­re­ak­tion ausge­löst. Es gab keine drin­gen­den Tele­fon­ge­sprä­che zwischen den Haupt­städ­ten der Welt, keine Notfall-Zoom-Sitzun­gen der Zentral­ban­ken, keine Sorge um die Menschen, die immer tiefer in die Armut abrut­schen, während ihre Länder ange­sichts einer immer dauer­haf­te­ren Schul­den­krise Spar­pro­gramme durch­set­zen. Die meis­ten Proteste am 8. März konzen­trier­ten sich auf die Infla­tion der Lebens­mit­tel- und Treib­stoff­preise und auf die prekä­ren Bedin­gun­gen, die dies für Frauen schafft. Von der öffent­li­chen Aktion der Land­lo­sen­be­we­gung gegen skla­ven­ähn­li­che Arbeits­prak­ti­ken in Brasi­lien bis hin zur Demons­tra­tion gegen geschlechts­spe­zi­fi­sche Gewalt orga­ni­siert von den natio­na­len Netz­wer­ken von Bäuer*innengruppen in Tansa­nia gingen Frauen, die in länd­li­chen und städ­ti­schen Gewerk­schaf­ten, in poli­ti­schen Parteien und in einer Reihe von sozia­len Bewe­gun­gen orga­ni­siert sind, auf die Straße, um mit Josie Mpama zu sagen: «Macht Platz für Frauen, die voran­ge­hen werden».

Bei Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch haben wir verfolgt, wie die Pande­mie die Struk­tu­ren des Neoko­lo­nia­lis­mus und des Patri­ar­chats verfes­tigt hat, was in Coro­naS­hock and Patri­ar­chy (Novem­ber 2020) mündete, in dem auch eine Liste der femi­nis­ti­schen Volks­for­de­run­gen zur Bewäl­ti­gung der globa­len gesund­heit­li­chen, poli­ti­schen, sozia­len und wirt­schaft­li­chen Krise vorge­legt wurde. Zu Beginn des Jahres, im März 2020, veröf­fent­lich­ten wir die erste Studie unse­rer Femi­nis­mus-Reihe Women of Struggle, Women in Struggle, in der wir aufzeig­ten, wie wirt­schaft­li­cher Nieder­gang und Spar­maß­nah­men dazu führen, dass mehr Frauen arbeits­los werden, dass Frauen stär­ker unter Druck gesetzt werden, sich um ihre Fami­lien und Gemein­schaf­ten zu kümmern, und wie sie zu mehr Frau­en­mor­den führen. Wir schrie­ben auch über den Anstieg der Proteste von Frauen in der ganzen Welt als Reak­tion auf diese schreck­li­chen Zustände. Damals beschlos­sen wir, dass einer unse­rer Beiträge zu diesen Kämp­fen darin bestehen würde, die Geschichte von Frauen in unse­ren Bewe­gun­gen zu erfor­schen, die weit­ge­hend in Verges­sen­heit gera­ten sind. In den vergan­ge­nen drei Jahren haben wir Kurz­bio­gra­fien von drei Frauen veröf­fent­licht – Kanak Mukher­jee (Indien, 1921–2005), Nela Martí­nez Espi­nosa (Ecua­dor, 1912–2004) und jetzt Josie Mpama (Südafrika, 1903–1979). Jedes Jahr werden wir eine Biogra­fie einer Frau veröf­fent­li­chen, die wie Kanak, Nela und Josie für einen Sozia­lis­mus kämpfte, der das Patri­ar­chat und die Klas­sen­aus­beu­tung über­win­den würde.

Die Proteste gegen Unter­mie­ter­ge­neh­mi­gun­gen in Potchef­st­room in den späten 1920er Jahren stie­ßen oft beim Rathaus, das in der Ferne zu sehen ist, mit den Behör­den zusammen.

In den frühen 1920er Jahren arbei­tete Josie Mpama, die in die schwarze Arbei­ter­klasse Südafri­kas hinein­ge­bo­ren wurde, im infor­mel­len Sektor, wusch Wäsche, putzte Häuser und kochte. Als das rassis­ti­sche Regime versuchte, poli­ti­sche Maßnah­men und Gesetze zur Einschrän­kung der Bewe­gungs­frei­heit von Afrikaner*innen durch­zu­set­zen, wandte sie sich der Poli­tik zu und bekämpfte die Unter­drü­ckung, die mit Verord­nun­gen wie den Unter­mie­ter­laub­nis­sen in Potchef­st­room (im Nord­wes­ten des Landes) einher­ging. Die 1921 gegrün­dete Kommu­nis­ti­sche Partei Südafri­kas (CPSA) gab den unzäh­li­gen Protes­ten gegen die Rassen­tren­nungs­ge­setze eine Form und lehrte die Arbei­ter, ihre «Arbeits­kraft und die Macht, sie zu orga­ni­sie­ren und zu verwei­gern» zu nutzen, wie es in ihren Flug­blät­tern hieß. «Dies sind eure Waffen; lernt, sie zu benut­zen, um den Tyran­nen in die Knie zu zwingen».

 

1928 trat Josie der CPSA bei und fand dort Unter­stüt­zung sowohl für ihre Mobli­sie­rungs­ar­beit als auch für ihr Stre­ben nach poli­ti­scher Bildung. In den 1930er Jahren zog sie nach Johan­nes­burg und eröff­nete eine Abend­schule für ideo­lo­gi­sche Bildung sowie für Grund­kennt­nisse in Mathe­ma­tik und Englisch. Später wurde Josie eine der ersten schwar­zen Frauen aus der Arbei­ter­klasse, die in die Führungs­riege der CPSA eintrat, und reiste schließ­lich unter dem Pseud­onym Red Scarf nach Moskau, wo sie die Kommu­nis­ti­sche Univer­si­tät der Werk­tä­ti­gen des Ostens besuchte. Unter Josies Führung als Leite­rin der Frau­en­ab­tei­lung der Partei traten immer mehr Frauen der CPSA bei, vor allem weil sie Themen aufgriff, die sie betra­fen, und Frauen ermu­tigte, an der Seite der Männer zu kämp­fen und sich für radi­ka­lere Konzepte von Geschlech­ter­rol­len einzusetzen.

The Fede­ra­tion of South Afri­can Women held its inau­gu­ral confe­rence on 17 April 1954 at the Trades Hall in Johan­nes­burg, where Josie chai­red the session ‘Women’s Struggle for Peace’.

Vieles aus dieser Geschichte ist in Verges­sen­heit gera­ten. Im heuti­gen Südafrika konzen­triert man sich auf die Bedeu­tung der Frei­heits­charta (verab­schie­det am 26. Juni 1955). Aber es wird weni­ger aner­kannt, dass ein Jahr zuvor die Föde­ra­tion südafri­ka­ni­scher Frauen (FEDSAW) eine Frau­en­charta (April 1954) verab­schie­dete, die – wie wir in der Studie schrei­ben – «schließ­lich die Grund­lage für bestimmte verfas­sungs­mä­ßige Rechte im Südafrika nach der Apart­heid werden sollte». Die Frau­en­charta wurde von 146 Dele­gier­ten verab­schie­det, die 230.000 Frauen vertra­ten. Eine dieser Dele­gier­ten war Josie, die im Namen der Trans­vaal All-Women’s Union an der Konfe­renz teil­nahm und Präsi­den­tin des Trans­vaal-Zwei­ges der FEDSAW wurde. Die Frau­en­charta forderte glei­chen Lohn für glei­che Arbeit (was bis heute nicht erreicht wurde) und das Recht der Frauen, Gewerk­schaf­ten zu grün­den. Josies Führungs­rolle in der FEDSAW erregte die Aufmerk­sam­keit des südafri­ka­ni­schen Apart­heid-Regimes, das sie 1955 aus der Poli­tik verbannte. «Josie hin oder her», schrieb sie an ihre FEDSAW-Genos­sin­nen, «der Kampf wird weiter­ge­hen, und wir werden den Tag des Sieges erleben».

 

Am 9. August 1956 marschier­ten 20.000 Frauen in die südafri­ka­ni­sche Haupt­stadt Preto­ria und forder­ten die Abschaf­fung der Apart­heid-Pass­ge­setze. Dieses Datum – der 9. August – wird heute in Südafrika als Frau­en­tag began­gen. Während des Marsches skan­dier­ten die Frauen: wathint’ abafazi, wathint’ imbo­kodo, uzokufa («schlägst du die Frauen, schlägst du den Fels, wirst du zerschmettert»).

 

Herz­lichst,

 

Vijay

Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.