Wir befinden uns in einer Periode großer tektonischer Verschiebungen.
Der elfte Newsletter (2022).
Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro des Tricontinental: Institute for Social Research.
Der Krieg in der Ukraine hat die Aufmerksamkeit auf die Verschiebungen in der Weltordnung gelenkt. Die militärische Intervention Russlands wurde vom Westen mit Sanktionen sowie mit dem Transport von Waffen und Söldnern in die Ukraine beantwortet. Diese Sanktionen werden sich stark auf die russische Wirtschaft und die zentralasiatischen Staaten auswirken, aber auch auf die europäische Bevölkerung, die mit einem weiteren Anstieg der Energie- und Lebensmittelpreise rechnen muss. Bislang hat der Westen beschlossen, nicht mit direkter militärischer Gewalt einzugreifen oder zu versuchen, eine Flugverbotszone einzurichten. Man ist sich bewusst, dass ein solches Eingreifen zu einem ausgewachsenen Krieg zwischen den Vereinigten Staaten und Russland führen könnte, dessen Folgen angesichts der Atomwaffenkapazitäten beider Länder undenkbar sind. In Ermangelung einer anderen Reaktion musste der Westen – wie bei der russischen Intervention in Syrien 2015 – das Vorgehen Moskaus akzeptieren.
Um die aktuelle globale Situation zu verstehen folgen sechs Thesen über die Etablierung der US-geprägten Weltordnung seit 1990 bis zur aktuellen Fragilität dieser Ordnung angesichts der wachsenden russischen und chinesischen Macht. Diese Thesen entstammen unserer Analyse im Dossier Nr. 36 (Januar 2021), Twilight: The Erosion of US Control and the Multipolar Future; sie sind zur Diskussion gedacht und Rückmeldungen dazu sind daher sehr willkommen.
These 1: Unipolarität. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entwickelten die Vereinigten Staaten zwischen 1990 und 2013–15 ein Weltsystem, von dem multinationale Konzerne mit Sitz in den Vereinigten Staaten und den anderen G7-Ländern (Deutschland, Japan, Großbritannien, Frankreich, Italien und Kanada) profitierten. Die Ereignisse, die die überwältigende Macht der USA ausmachen, waren die Invasionen im Irak (1991) und in Jugoslawien (1999) sowie die Gründung der Welthandelsorganisation (1994). Das durch den Zusammenbruch der UdSSR geschwächte Russland versuchte, in dieses System einzutreten, indem es der G7 beitrat und mit der Nordatlantikvertragsorganisation (NATO) als «Partner für den Frieden» zusammenarbeitete. In der Zwischenzeit spielte China unter den Präsidenten Jiang Zemin (1993–2003) und Hu Jintao (2003–2013) ein vorsichtiges Spiel, indem es sich in das von den USA dominierte globale System einfügte und die USA in ihren Operationen nicht herausforderte.
These 2: Signal-Krise. Die USA haben ihre Macht in zwei Bereichen überstrapaziert: erstens in der übermäßige Verschuldung ihrer eigenen Wirtschaft (überschuldete Banken, mehr unproduktive als produktive Vermögenswerte) und zweitens im Versuch, in den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts mehrere Kriege gleichzeitig zu führen (Afghanistan, Irak, Sahelzone). Die Invasion des Irak (2003) und das Debakel dieses Krieges für die US-Machtprojektion sowie die Kreditkrise (2007–08) haben die Schwäche der US-Macht deutlich gemacht. Diesen Entwicklungen folgten eine interne politische Polarisierung in den USA und eine Legitimationskrise in Europa.
These 3: Chinesisch-russischer Aufschwung. In der zweiten Dekade der 2000er Jahre sind sowohl China als auch Russland aus unterschiedlichen Gründen aus ihrem relativen Dornröschenschlaf erwacht.
Chinas Aufschwung hat zwei Gründe:
- Chinas Binnenwirtschaft. China baute massive Handelsüberschüsse auf und erwarb parallel dazu durch Handelsabkommen und Investitionen in die Hochschulbildung wissenschaftliches und technologisches Wissen. Chinesische Unternehmen in den Bereichen Robotik, Hightech, Hochgeschwindigkeitszüge und grüne Energie haben westliche Firmen überholt.
- Chinas Außenbeziehungen. Im Jahr 2013 kündigte China die neue Seidenstraße (Belt and Road Initiative, BRI) an, die eine Alternative zur Entwicklungs- und Handelsagenda des US-gesteuerten Internationalen Währungsfonds darstellte. Die BRI dehnt sich von Asien nach Europa sowie nach Afrika und Lateinamerika aus.
Auch Russland hat sich auf zwei Beinen entwickelt:
- Russlands Binnenwirtschaft. Präsident Wladimir Putin kämpfte gegen einige der großen Kapitalist*innen, um die staatliche Kontrolle über wichtige Rohstoffexportsektoren durchzusetzen, und nutzte diese zum Aufbau von Staatsvermögen (vor allem Öl und Gas). Anstatt russische Vermögenswerte lediglich auszuschöpfen, um ihre Bankkonten im Ausland vollzustopfen, erklärten sich diese russischen Kapitalist*innen bereit, einen Teil ihrer Ambitionen dem Wiederaufbau der Macht und des Einflusses des russischen Staates unterzuordnen.
- Russlands Außenbeziehungen. Seit 2007 begann Russland, sich von der globalen Agenda des Westens zu entfernen und sein eigenes Projekt voranzutreiben, zunächst durch die BRICS-Agenda (Brasilien-Russland-Indien-China-Südafrika) und später durch immer engere Beziehungen zu China. Russland nutzte seine Energieexporte, um die Kontrolle über seine Grenzen zu behaupten, was es nicht getan hatte, als die NATO 2004 erweitert wurde, um sieben Länder in der Nähe seiner westlichen Grenzen aufzunehmen. Bei seinen Interventionen auf der Krim (2014) und in Syrien (2015) setzte Russland seine militärischen Kräfte ein, um einen Schutzschild um seine Warmwasserhäfen in Sewastopol (Krim) und Tartus (Syrien) zu errichten. Dies war die erste militärische Herausforderung für die USA seit 1990.
In dieser Zeit haben China und Russland ihre Zusammenarbeit in allen Bereichen vertieft.
These 4: Die globale Monroe-Doktrin. Die Vereinigten Staaten haben ihre Monroe-Doktrin von 1823 (mit der sie ihre Kontrolle über den amerikanischen Kontinent geltend machten) auf die ganze Welt ausgedehnt und in der postsowjetischen Ära erstrebt, dass die ganze Welt ihr Herrschaftsgebiet sei. Sie begannen, sich gegen die Ansprüche Chinas (Obamas Pivot to Asia) und Russlands (Russiagate und Ukraine) zu wehren. Dieser von den USA vorangetriebene Neue Kalte Krieg, der auch eine hybride Kriegsführung durch Sanktionen gegen dreißig Länder wie den Iran und Venezuela umfasst, hat die Welt destabilisiert.
These 5: Konfrontationen. Die durch den Neuen Kalten Krieg angetriebenen Konfrontationen haben die Lage in Asien – wo die Taiwanstraße nach wie vor eine umkämpfte Zone ist – und in Lateinamerika – wo die Vereinigten Staaten versucht haben, einen heißen Krieg in Venezuela anzuzetteln (sowie versuchten und scheiterten, ihre Macht in Ländern wie Bolivien zu demonstrieren) – aufgeheizt. Der derzeitige Konflikt in der Ukraine – der auf viele Faktoren zurückzuführen ist, einschließlich des Scheiterns des ukrainischen plurinationalen Vertrags – dreht sich ebenfalls um die Frage der europäischen Unabhängigkeit. Die USA haben die «Globale NATO» als trojanisches Pferd benutzt, um ihre Macht über Europa auszuüben und es den US-Interessen unterzuordnen, selbst wenn dies den Europäer*innen schadet, da sie Energieversorgung und Erdgas für die Lebensmittelwirtschaft verlieren. Russland hat die territoriale Souveränität der Ukraine verletzt, aber die NATO hat einige der Bedingungen geschaffen, die diese Konfrontation beschleunigt haben – nicht für die Ukraine, sondern für ihr Projekt in Europa.
These 6: Endgültige Krise. Fragilität ist der Schlüssel zum Verständnis der heutigen US-Macht. Sie hat weder dramatisch abgenommen, noch bleibt sie unversehrt. Es gibt drei Quellen der US-Macht, die relativ unangetastet sind:
- Überwältigende militärische Macht. Die Vereinigten Staaten sind nach wie vor das einzige Land der Welt, das in der Lage ist, jeden anderen UN-Mitgliedstaat in die Steinzeit zu bomben.
- Das Dollar-Wall-Street-IMF-Regime. Aufgrund der weltweiten Abhängigkeit vom US-Dollar und des auf US-Dollar basierten globalen Finanzsystems können die USA ihre Sanktionen als Kriegswaffe einsetzen, um Länder nach ihrem Gutdünken zu schwächen.
- Informationelle Macht. Kein anderes Land hat eine so entscheidende Kontrolle über das Internet, sowohl über seine physische Infrastruktur als auch über seine nahezu monopolistischen Unternehmen (wie Facebook und YouTube, die jeden Inhalt und jeden Anbieter nach Belieben entfernen); kein anderes Land hat aufgrund der Macht seiner Nachrichtendienste (Reuters und Associated Press) sowie der großen Nachrichtensender (wie CNN) so viel Kontrolle über die Gestaltung der Weltnachrichten.
Es gibt andere Quellen der US-Macht, die stark geschwächt sind, wie z. B. die politische Landschaft, die stark polarisiert ist, und die Unfähigkeit der USA, ihre Ressourcen zu bündeln, um China und Russland zurückzudrängen.
Die Volksbewegungen müssen ihre eigene Macht ausbauen, indem sie die Menschen in schlagkräftigen Organisationen und um ein Programm herum organisieren, das in der Lage ist, sowohl die unmittelbaren Probleme unserer Zeit zu lösen als auch die langfristige Frage zu beantworten, wie wir zu einem System übergehen können, das die Apartheid unserer Zeit überwinden kann: die Ernährungs-Apartheid, die medizinische Apartheid, die Apartheid im Bildungswesen und die Geld-Apartheid. Die Überwindung dieser Apartheid führt uns aus diesem kapitalistischen System heraus zum Sozialismus.
In der vergangenen Woche haben wir viele alte und junge Genoss*innen verloren. Unter ihnen ist unser Senior Fellow Aijaz Ahmad (1941–2022), einer der großen Marxisten unserer Zeit, der im Alter von 81 Jahren von uns gegangen ist. Als der Marxismus nach dem Fall der UdSSR unter Beschuss geriet, hielt Aijaz die Stellung und lehrte Generationen von uns die Notwendigkeit der marxistischen Theorie; diese Theorie bleibt notwendig, weil sie nach wie vor die stärkste Kritik am Kapitalismus darstellt, und solange der Kapitalismus unser Leben strukturiert, bleibt diese Kritik grenzenlos. Für uns bei Tricontinental: Institute for Social Research war Aijaz’ Mentorschaft von unschätzbarem Wert. Das Dossier Twilight, das uns half, uns in der gegenwärtigen Situation zu orientieren, wurde nach ausführlichen Diskussionen mit Aijaz geschrieben.
Wir haben auch Ayanda Ngila (1992–2022) verloren, den stellvertretenden Vorsitzenden der eKhenana-Landbesetzung, die Teil der militanten südafrikanischen Bewegung der Slumbewohner*innen, Abahlali baseMjondolo (AbM), war. Ayanda war ein mutiger Anführer der AbM, der vor kurzem aus einer zweiten Gefängnishaft entlassen wurde, zu der er aufgrund erfundener Anschuldigungen verurteilt war. Er war ein warmherziger Genosse für seine Mitstreiter*innen und ein Schüler und Lehrer an der Frantz-Fanon-Schule. Als er von seinen Gegnern im Afrikanischen Nationalkongress erschossen wurde, trug Ayanda ein T‑Shirt mit einem Zitat von Steve Biko: «Es ist besser, für eine Idee zu sterben, die leben wird, als für eine Idee zu leben, die sterben wird». An die Wände der Frantz-Fanon-Schule malten die Genoss*innen der AbM deutlich sichtbar ihre Ideale: Land, menschenwürdige Wohnungen, Würde, Freiheit und Sozialismus.
Wir stimmen dem zu. Das würde auch Aijaz tun.
Herzlichst,
Vijay