Du bist wie wir ein Opfer des Krieges.

Der zehnte Newsletter (2022).

Daniela Edburg (Mexiko), Atomic Picnic, 2007.

Liebe Freund*innen,

 

Grüße aus dem Büro von Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

Am 27. Februar traf sich der russi­sche Präsi­dent Wladi­mir Putin mit dem Gene­ral­stabs­chef der russi­schen Streit­kräfte Waleri Geras­si­mow und dem russi­schen Vertei­di­gungs­mi­nis­ter Sergej Schoigu. «Die Spit­zen­be­am­ten der führen­den NATO-Länder haben aggres­sive Erklä­run­gen gegen unser Land abge­ge­ben», sagte Putin. Deshalb wies er seine Spit­zen­be­am­ten an, «die Abschre­ckungs­kräfte der russi­schen Armee in einen beson­de­ren Kampf­mo­dus zu verset­zen». Dieser büro­kra­tisch formu­lierte Satz bedeu­tet nichts ande­res, als dass Russ­lands Atom­waf­fen­ar­se­nal in höchste Alarm­be­reit­schaft versetzt wird. Unter­des­sen haben russi­sche Streit­kräfte offen­bar das Kern­kraft­werk Sapo­rischschja in der Ukraine, das größte Kern­kraft­werk Euro­pas, in ihre Gewalt gebracht. Erste Berichte, wonach das Kraft­werk in Flam­men stehe, erwie­sen sich als falsch, obwohl die Nach­richt, dass es an dem Stand­ort zu Kämp­fen gekom­men ist, beun­ru­hi­gend genug war.


Mehr als 90 % der welt­weit 12.700 Atom­waf­fen befin­den sich im Besitz der Verei­nig­ten Staa­ten und Russ­lands; die rest­li­chen befin­den sich in sieben ande­ren Ländern. Etwa 2.000 dieser Spreng­köpfe – im Besitz der USA, Russ­lands, Groß­bri­tan­ni­ens und Frank­reichs – sind in stän­di­ger Alarm­be­reit­schaft, was bedeu­tet, dass sie jeder­zeit einsatz­be­reit sind. Die Verei­nig­ten Staa­ten haben Atom­waf­fen nicht nur auf ihrem eige­nen Terri­to­rium, sondern auf der ganzen Welt statio­niert, darun­ter auch in Europa; etwa 100 ihrer B61-Atom­waf­fen sind in Belgien, Deutsch­land, Italien, den Nieder­lan­den und der Türkei statio­niert – alle­samt NATO-Mitglied­staa­ten. In den Jahren 2018/19 traten die Verei­nig­ten Staa­ten einsei­tig aus dem INF-Vertrag (Inter­me­diate-Range Nuclear Forces) von 1987 aus, einem Rüstungs­kon­troll­ab­kom­men mit Russ­land, das diesem Schritt umge­hend folgte. Die Aufkün­di­gung des Vertrags bedeu­tet, dass jedes Land nun boden­ge­stützte Rake­ten mit einer Reich­weite von bis zu 5.500 Kilo­me­tern einset­zen kann, was die Sicher­heits­ar­chi­tek­tur in und um Europa bedeu­tend schwächt. Es ist unbe­streit­bar, dass der Austritt aus dem INF-Vertrag einer der Gründe ist, warum Russ­land glaubt, dass die Verei­nig­ten Staa­ten die Nähe zu ihren Gren­zen suchen, um solche Rake­ten zu statio­nie­ren und die Schlag­zeit auf russi­sche Städte zu verkür­zen. Darüber hinaus bauen die Verei­nig­ten Staa­ten ein neues, 100 Milli­ar­den US-Dollar teures Rake­ten­sys­tem mit der Bezeich­nung GBSD (ground-based stra­te­gic deterrent), das eine Reich­weite von fast 10.000 Kilo­me­tern hat; diese Rakete kann Atom­waf­fen tragen und jeden Ort der Erde inner­halb von Minu­ten treffen.

Elliott McDo­well (USA), Tony at Yucca Flats, 1982.

Diese gefähr­li­chen Entwick­lun­gen – der Austritt aus dem INF, die Entwick­lung der GBSD, Russ­lands Einmarsch in der Ukraine – kamen, nach­dem die Welt mit «Ja» für den Vertrag über das Verbot von Kern­waf­fen (2017) gestimmt hatte, der am 22. Januar 2021 in Kraft trat. Eine über­wäl­ti­gende Mehr­heit der Mitglieds­staa­ten der Verein­ten Natio­nen, nämlich 122, stimmte für diesen Vertrag; nur ein Mitglied (die Nieder­lande) stimmte dage­gen. Aller­dings enthiel­ten sich 69 Länder, darun­ter alle neun Atom­waf­fen­staa­ten und alle NATO-Mitglie­der (außer den Nieder­lan­den). Die russi­sche Mili­tär­ak­tion in der Ukraine macht zumin­dest deut­lich, warum ein welt­wei­tes Atom­waf­fen­ver­bot notwen­dig ist und warum sich jedes einzelne Land zur Abrüs­tung und Entsor­gung seines Atom­waf­fen­ar­se­nals verpflich­ten muss.


Es gibt eine prak­ti­sche Methode, um den welt­wei­ten Wunsch nach der Abschaf­fung von Atom­waf­fen voran­zu­brin­gen: die Auswei­tung der atom­waf­fen­freien Zonen (Nuclear-Weapons-Free Zones, kurz NWFZ).

Maria Pryma­chenko (Ukraine), May That Nuclear War Be Cursed!, 1978.

Seit den frühen 1960er Jahren führte der Vertre­ter Mexi­kos bei den Verein­ten Natio­nen, Alfonso García Robles, den Kampf für die Einrich­tung einer NWFZ auf dem ameri­ka­ni­schen Konti­nent an. Wenn diese regio­na­len Zonen geschaf­fen und ausge­wei­tet werden, so García Robles 1974 bei den Verein­ten Natio­nen, «wird das Gebiet, in dem Atom­waf­fen verbo­ten sind, schließ­lich ein Ausmaß errei­chen, dass die Terri­to­rien der Mächte, die diese schreck­li­chen Massen­ver­nich­tungs­waf­fen besit­zen, schließ­lich verseuch­ten Inseln glei­chen werden, die einer Quaran­täne unter­lie­gen». García Robles sprach mit dem Anse­hen, das Mexiko aufgrund seiner führen­den Rolle bei der Verab­schie­dung des Vertrags von Tlate­lolco im Jahr 1967 genießt. Mit diesem Vertrag wurde die erste NWFZ geschaf­fen, die 33 der 35 Länder der ameri­ka­ni­schen Hemi­sphäre umfasste; nur Kanada und die Verei­nig­ten Staa­ten blie­ben außer­halb der Zone.


Seit dem Vertrag von Tlate­lolco wurden vier weitere NWFZ geschaf­fen: im Südpa­zi­fik (Vertrag von Rarotonga, 1985), in Südost­asien (Vertrag von Bang­kok, 1995), auf dem afri­ka­ni­schen Konti­nent (Vertrag von Pelind­aba, 1996) und in Zentral­asien (Vertrag von Semi­pa­la­tinsk, 2006). Diese fünf NWFZ umfas­sen zusam­men 113 Länder, darun­ter 60 % der Mitglied­staa­ten der Verein­ten Natio­nen und alle Länder des afri­ka­ni­schen Konti­nents. Die wich­tigs­ten recht­li­chen Verein­ba­run­gen im Zusam­men­hang mit Kern­waf­fen, wie der Nukleare Nicht­ver­brei­tungs­ver­trag (NVV, 1968), ermög­li­chen die Einrich­tung dieser kern­waf­fen­freien Zonen; so heißt es beispiels­weise in Arti­kel VII des NVV: «Dieser Vertrag berührt in keiner Weise das Recht einer Gruppe von Staa­ten, regio­nale Verträge zu schlie­ßen, um die völlige Abwe­sen­heit von Kern­waf­fen in ihrem jewei­li­gen Hoheits­ge­biet zu gewähr­leis­ten». Die UN-Gene­ral­ver­samm­lung hat regel­mä­ßig die Einrich­tung weite­rer NWFZ gefor­dert.

Pavel Pepper­stein (Russ­land), Bikini 47, 2001.

Keiner der Atom­waf­fen­staa­ten ist diesen Verträ­gen beigetre­ten. Das liegt nicht an mangeln­dem Inter­esse. 1966 erklärte der sowje­ti­sche Minis­ter­prä­si­dent Alexej Kossy­gin vor dem Abrüs­tungs­aus­schuss der Verein­ten Natio­nen, dass seine Regie­rung bereit sei, eine Klau­sel in den Atom­waf­fen­sperr­ver­trag aufzu­neh­men, die «den Einsatz von Atom­waf­fen gegen Nicht-Atom­waf­fen­staa­ten, die keine Atom­waf­fen in ihrem Hoheits­ge­biet haben», verbie­ten würde. Im Jahr darauf erklärte der sowje­ti­sche Botschaf­ter im Abrüs­tungs­aus­schuss, Alexej Roscht­schin, seine Regie­rung hoffe, dass der NVV als «erster Schritt zur Been­di­gung des nuklea­ren Wett­rüs­tens, zur Abschaf­fung der Atom­waf­fen» betrach­tet werden sollte.

 

Diese Äuße­run­gen von Kossy­gin und Roscht­schin erfolg­ten, nach­dem der polni­sche Außen­mi­nis­ter Adam Rapa­cki am 2. Okto­ber 1957 den Verein­ten Natio­nen einen Plan zur Schaf­fung eines entnu­kle­a­ri­sier­ten Mittel­eu­ro­pas vorge­schla­gen hatte. Der Rapa­cki-Plan sah vor, eine NWFZ in Polen und den beiden deut­schen Staa­ten zu errich­ten, mit der Hoff­nung, sie auf die Tsche­cho­slo­wa­kei auszu­deh­nen. Der Plan wurde von der Sowjet­union und allen Ländern des Warschauer Vertra­ges (Alba­nien, Polen, Tsche­cho­slo­wa­kei, Ungarn, Bulga­rien, Rumä­nien und der Deut­schen Demo­kra­ti­schen Repu­blik) unterstützt.

 

Einwände gegen den Rapa­cki-Plan kamen von der NATO und insbe­son­dere von den Verei­nig­ten Staa­ten. Auf der Pari­ser Tagung des NATO-Rates im Dezem­ber 1957 beschloss das Mili­tär­bünd­nis, die Aufrüs­tung mit Atom­waf­fen fort­zu­set­zen, mit dem Argu­ment, dass die Sowjet­union im Vorteil gegen­über den euro­päi­schen Ländern sei, die sich auf «Waffen aus dem präato­ma­ren Zeit­al­ter» stütz­ten. Zwei Wochen später erör­terte das polni­sche Außen­mi­nis­te­rium die Entschei­dung der NATO und formu­lierte eine vernünf­tige Antwort in Form eines zwei­ten Entwurfs des Rapa­cki-Plans. Zu den vier neuen Elemen­ten des Plans gehörten:

 

    1. Die Garan­tie, dass die atom­waf­fen­freie Zone nicht mit Atom­waf­fen ange­grif­fen werden würde.
    2. Die Bereit­schaft, die konven­tio­nel­len Streit­kräfte zu redu­zie­ren und auszugleichen.
    3. Entwick­lung eines Kontroll­plans in der Zone für alle Arten von Waffen.
    4. Die Entwick­lung einer Rechts­form für einen Vertrag über eine atom­waf­fen­freie Zone.

 

Die NATO wollte keinen dieser Vorschläge ernst nehmen. Der Rapa­cki-Plan starb eines stil­len Todes und ist weit­ge­hend verges­sen. Heute gibt es keine Diskus­sion über eine atom­waf­fen­freie Zone in irgend­ei­nem Teil Euro­pas, obwohl es der Ground Zero für den nuklea­ren Auslö­ser ist.

Faiza Butt (Paki­stan), Get Out of My Dreams I, 2008.

Vorschläge für nukle­ar­waf­fen­freie Zonen in ande­ren Teilen der Welt gibt es viele. Der Iran ist einer der Befür­wor­ter einer NWFZ im Nahen Osten. Dieser Vorschlag wurde erst­mals 1974 bei der UNO vorge­bracht und von 1980 bis 2018 jedes Jahr von Ägyp­ten und dem Iran in der UNO-Gene­ral­ver­samm­lung einge­bracht und jedes Jahr ohne Abstim­mung ange­nom­men. Aber dieser Vorschlag ist in dem Moment gestor­ben, als Israel sich gewei­gert hat, ihn zu akzep­tie­ren. Im Septem­ber 1972 schlug der paki­sta­ni­sche Vertre­ter bei der UN-Atom­ener­gie­kon­fe­renz, Munir Ahmad Khan, eine NWFZ in Südasien vor, aber die Idee wurde ad acta gelegt, als Indien im Mai 1974 Atom­waf­fen testete. Hin und wieder werfen Länder die Frage einer NWFZ in der Arktis oder im Pazi­fi­schen Ozean auf, aber keiner dieser Vorschläge wurde verwirk­licht. Die Haupt­geg­ner dieser Vorschläge sind die Kern­waf­fen­staa­ten, allen voran die Verei­nig­ten Staaten.

Akiko Taka­kura (Japan), A Woman Driven by Unbe­ara­ble Thirst Tried to Catch the Black Rain­drops in Her Mouth, c. 1974.

Die Kämpfe in der Ukraine, die um Atom­kraft­werke herum statt­fin­den, und die halt­lo­sen Kommen­tare mäch­ti­ger Männer über Atom­waf­fen erin­nern uns an die großen Gefah­ren, denen wir ausge­setzt sind. Als ich Kind war, begin­gen indi­sche Schu­len den Hiro­shima-Tag am 6. August mit großer Feier­lich­keit. An der Schule wurde ein Vortrag über die Bruta­li­tät des Angriffs gehal­ten, dann gingen wir in unser Klas­sen­zim­mer und mach­ten entwe­der eine Zeich­nung oder schrie­ben eine Geschichte über das, was wir gelernt hatten. Ziel dieser Übun­gen war es, einen tiefen Hass auf den Krieg in unse­ren jungen Köpfen zu pflan­zen. Es fällt mir auf, dass wir – als mensch­li­che Zivi­li­sa­tion – Hiro­shima und Naga­saki und die schreck­li­chen Waffen verges­sen haben, die die Verei­nig­ten Staa­ten 1945 auf ihre Bevöl­ke­rung abge­wor­fen haben.

Ich habe Jahre damit verbracht, die Worte der Hiba­ku­sha, der Über­le­ben­den dieser Angriffe, zu lesen und die Jour­na­lis­ten Wilfred Burchett, John Hersey und Charles Loeb sowie die Schrif­ten von Kenzaburō Ōe, Kōbō Abe, Masuji Ibuse, Michi­hiko Hachiya, Sanki­chi Tōge, Shinoe Shōda, Tamiki Hara, Yōko Ōta, Yoshie Hotta und ande­ren erneut zu lesen. Diese Autor*innen beleuch­ten die Schre­cken des Krie­ges und des Verges­sens, das der Welt von denen aufge­drängt wird, die uns in einen Konflikt nach dem ande­ren ziehen wollen.

 

Bei dieser Lektüre stieß ich auf den Austausch zwischen Günther Anders, einem deut­schen marxis­ti­schen Philo­so­phen, und Claude Eatherly, einem der US-Pilo­ten, die in der Staf­fel flogen, die Hiro­shima bombar­dierte. Anders schrieb 1959 an Eatherly und begann damit einen Brief­wech­sel, der dazu führte, dass ein gebro­che­ner Eatherly die Menschen in Hiro­shima um Verge­bung bat. Die Antwort von drei­ßig jungen Hiba­ku­sha-Frauen an Eatherly hat mich tief bewegt, und ich hoffe, dass sie auch euch bewe­gen wird:

 

Wir haben gelernt, dir gegen­über Mitge­fühl zu empfinden,

weil wir denken, dass auch du ein Opfer des Krie­ges bist,

wie wir.

 

Es ist, als würden die Hiba­ku­sha-Frauen die Gefühle kana­li­sie­ren, die vor über hundert Jahren den Inter­na­tio­na­len Tag der arbei­ten­den Frauen ins Leben riefen, einen Tag, der 1917 den Anstoß zur Revo­lu­tion im zaris­ti­schen Russ­land gab. Clara Zetkin, eine der Begrün­de­rin­nen des Tages, schrieb über den Krieg und seine Spal­tun­gen: «Das Blut der Gefal­le­nen und Verwun­de­ten darf kein Strom sein, der das trennt, was die gegen­wär­tige Not und die zukünf­tige Hoff­nung vereint».

 

Herz­lichst,

 

Vijay

Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.