Du bist wie wir ein Opfer des Krieges.
Der zehnte Newsletter (2022).
Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro von Tricontinental: Institute for Social Research.
Am 27. Februar traf sich der russische Präsident Wladimir Putin mit dem Generalstabschef der russischen Streitkräfte Waleri Gerassimow und dem russischen Verteidigungsminister Sergej Schoigu. «Die Spitzenbeamten der führenden NATO-Länder haben aggressive Erklärungen gegen unser Land abgegeben», sagte Putin. Deshalb wies er seine Spitzenbeamten an, «die Abschreckungskräfte der russischen Armee in einen besonderen Kampfmodus zu versetzen». Dieser bürokratisch formulierte Satz bedeutet nichts anderes, als dass Russlands Atomwaffenarsenal in höchste Alarmbereitschaft versetzt wird. Unterdessen haben russische Streitkräfte offenbar das Kernkraftwerk Saporischschja in der Ukraine, das größte Kernkraftwerk Europas, in ihre Gewalt gebracht. Erste Berichte, wonach das Kraftwerk in Flammen stehe, erwiesen sich als falsch, obwohl die Nachricht, dass es an dem Standort zu Kämpfen gekommen ist, beunruhigend genug war.
Mehr als 90 % der weltweit 12.700 Atomwaffen befinden sich im Besitz der Vereinigten Staaten und Russlands; die restlichen befinden sich in sieben anderen Ländern. Etwa 2.000 dieser Sprengköpfe – im Besitz der USA, Russlands, Großbritanniens und Frankreichs – sind in ständiger Alarmbereitschaft, was bedeutet, dass sie jederzeit einsatzbereit sind. Die Vereinigten Staaten haben Atomwaffen nicht nur auf ihrem eigenen Territorium, sondern auf der ganzen Welt stationiert, darunter auch in Europa; etwa 100 ihrer B61-Atomwaffen sind in Belgien, Deutschland, Italien, den Niederlanden und der Türkei stationiert – allesamt NATO-Mitgliedstaaten. In den Jahren 2018/19 traten die Vereinigten Staaten einseitig aus dem INF-Vertrag (Intermediate-Range Nuclear Forces) von 1987 aus, einem Rüstungskontrollabkommen mit Russland, das diesem Schritt umgehend folgte. Die Aufkündigung des Vertrags bedeutet, dass jedes Land nun bodengestützte Raketen mit einer Reichweite von bis zu 5.500 Kilometern einsetzen kann, was die Sicherheitsarchitektur in und um Europa bedeutend schwächt. Es ist unbestreitbar, dass der Austritt aus dem INF-Vertrag einer der Gründe ist, warum Russland glaubt, dass die Vereinigten Staaten die Nähe zu ihren Grenzen suchen, um solche Raketen zu stationieren und die Schlagzeit auf russische Städte zu verkürzen. Darüber hinaus bauen die Vereinigten Staaten ein neues, 100 Milliarden US-Dollar teures Raketensystem mit der Bezeichnung GBSD (ground-based strategic deterrent), das eine Reichweite von fast 10.000 Kilometern hat; diese Rakete kann Atomwaffen tragen und jeden Ort der Erde innerhalb von Minuten treffen.
Diese gefährlichen Entwicklungen – der Austritt aus dem INF, die Entwicklung der GBSD, Russlands Einmarsch in der Ukraine – kamen, nachdem die Welt mit «Ja» für den Vertrag über das Verbot von Kernwaffen (2017) gestimmt hatte, der am 22. Januar 2021 in Kraft trat. Eine überwältigende Mehrheit der Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen, nämlich 122, stimmte für diesen Vertrag; nur ein Mitglied (die Niederlande) stimmte dagegen. Allerdings enthielten sich 69 Länder, darunter alle neun Atomwaffenstaaten und alle NATO-Mitglieder (außer den Niederlanden). Die russische Militäraktion in der Ukraine macht zumindest deutlich, warum ein weltweites Atomwaffenverbot notwendig ist und warum sich jedes einzelne Land zur Abrüstung und Entsorgung seines Atomwaffenarsenals verpflichten muss.
Es gibt eine praktische Methode, um den weltweiten Wunsch nach der Abschaffung von Atomwaffen voranzubringen: die Ausweitung der atomwaffenfreien Zonen (Nuclear-Weapons-Free Zones, kurz NWFZ).
Seit den frühen 1960er Jahren führte der Vertreter Mexikos bei den Vereinten Nationen, Alfonso García Robles, den Kampf für die Einrichtung einer NWFZ auf dem amerikanischen Kontinent an. Wenn diese regionalen Zonen geschaffen und ausgeweitet werden, so García Robles 1974 bei den Vereinten Nationen, «wird das Gebiet, in dem Atomwaffen verboten sind, schließlich ein Ausmaß erreichen, dass die Territorien der Mächte, die diese schrecklichen Massenvernichtungswaffen besitzen, schließlich verseuchten Inseln gleichen werden, die einer Quarantäne unterliegen». García Robles sprach mit dem Ansehen, das Mexiko aufgrund seiner führenden Rolle bei der Verabschiedung des Vertrags von Tlatelolco im Jahr 1967 genießt. Mit diesem Vertrag wurde die erste NWFZ geschaffen, die 33 der 35 Länder der amerikanischen Hemisphäre umfasste; nur Kanada und die Vereinigten Staaten blieben außerhalb der Zone.
Seit dem Vertrag von Tlatelolco wurden vier weitere NWFZ geschaffen: im Südpazifik (Vertrag von Rarotonga, 1985), in Südostasien (Vertrag von Bangkok, 1995), auf dem afrikanischen Kontinent (Vertrag von Pelindaba, 1996) und in Zentralasien (Vertrag von Semipalatinsk, 2006). Diese fünf NWFZ umfassen zusammen 113 Länder, darunter 60 % der Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen und alle Länder des afrikanischen Kontinents. Die wichtigsten rechtlichen Vereinbarungen im Zusammenhang mit Kernwaffen, wie der Nukleare Nichtverbreitungsvertrag (NVV, 1968), ermöglichen die Einrichtung dieser kernwaffenfreien Zonen; so heißt es beispielsweise in Artikel VII des NVV: «Dieser Vertrag berührt in keiner Weise das Recht einer Gruppe von Staaten, regionale Verträge zu schließen, um die völlige Abwesenheit von Kernwaffen in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet zu gewährleisten». Die UN-Generalversammlung hat regelmäßig die Einrichtung weiterer NWFZ gefordert.
Keiner der Atomwaffenstaaten ist diesen Verträgen beigetreten. Das liegt nicht an mangelndem Interesse. 1966 erklärte der sowjetische Ministerpräsident Alexej Kossygin vor dem Abrüstungsausschuss der Vereinten Nationen, dass seine Regierung bereit sei, eine Klausel in den Atomwaffensperrvertrag aufzunehmen, die «den Einsatz von Atomwaffen gegen Nicht-Atomwaffenstaaten, die keine Atomwaffen in ihrem Hoheitsgebiet haben», verbieten würde. Im Jahr darauf erklärte der sowjetische Botschafter im Abrüstungsausschuss, Alexej Roschtschin, seine Regierung hoffe, dass der NVV als «erster Schritt zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens, zur Abschaffung der Atomwaffen» betrachtet werden sollte.
Diese Äußerungen von Kossygin und Roschtschin erfolgten, nachdem der polnische Außenminister Adam Rapacki am 2. Oktober 1957 den Vereinten Nationen einen Plan zur Schaffung eines entnuklearisierten Mitteleuropas vorgeschlagen hatte. Der Rapacki-Plan sah vor, eine NWFZ in Polen und den beiden deutschen Staaten zu errichten, mit der Hoffnung, sie auf die Tschechoslowakei auszudehnen. Der Plan wurde von der Sowjetunion und allen Ländern des Warschauer Vertrages (Albanien, Polen, Tschechoslowakei, Ungarn, Bulgarien, Rumänien und der Deutschen Demokratischen Republik) unterstützt.
Einwände gegen den Rapacki-Plan kamen von der NATO und insbesondere von den Vereinigten Staaten. Auf der Pariser Tagung des NATO-Rates im Dezember 1957 beschloss das Militärbündnis, die Aufrüstung mit Atomwaffen fortzusetzen, mit dem Argument, dass die Sowjetunion im Vorteil gegenüber den europäischen Ländern sei, die sich auf «Waffen aus dem präatomaren Zeitalter» stützten. Zwei Wochen später erörterte das polnische Außenministerium die Entscheidung der NATO und formulierte eine vernünftige Antwort in Form eines zweiten Entwurfs des Rapacki-Plans. Zu den vier neuen Elementen des Plans gehörten:
- Die Garantie, dass die atomwaffenfreie Zone nicht mit Atomwaffen angegriffen werden würde.
- Die Bereitschaft, die konventionellen Streitkräfte zu reduzieren und auszugleichen.
- Entwicklung eines Kontrollplans in der Zone für alle Arten von Waffen.
- Die Entwicklung einer Rechtsform für einen Vertrag über eine atomwaffenfreie Zone.
Die NATO wollte keinen dieser Vorschläge ernst nehmen. Der Rapacki-Plan starb eines stillen Todes und ist weitgehend vergessen. Heute gibt es keine Diskussion über eine atomwaffenfreie Zone in irgendeinem Teil Europas, obwohl es der Ground Zero für den nuklearen Auslöser ist.
Vorschläge für nuklearwaffenfreie Zonen in anderen Teilen der Welt gibt es viele. Der Iran ist einer der Befürworter einer NWFZ im Nahen Osten. Dieser Vorschlag wurde erstmals 1974 bei der UNO vorgebracht und von 1980 bis 2018 jedes Jahr von Ägypten und dem Iran in der UNO-Generalversammlung eingebracht und jedes Jahr ohne Abstimmung angenommen. Aber dieser Vorschlag ist in dem Moment gestorben, als Israel sich geweigert hat, ihn zu akzeptieren. Im September 1972 schlug der pakistanische Vertreter bei der UN-Atomenergiekonferenz, Munir Ahmad Khan, eine NWFZ in Südasien vor, aber die Idee wurde ad acta gelegt, als Indien im Mai 1974 Atomwaffen testete. Hin und wieder werfen Länder die Frage einer NWFZ in der Arktis oder im Pazifischen Ozean auf, aber keiner dieser Vorschläge wurde verwirklicht. Die Hauptgegner dieser Vorschläge sind die Kernwaffenstaaten, allen voran die Vereinigten Staaten.
Die Kämpfe in der Ukraine, die um Atomkraftwerke herum stattfinden, und die haltlosen Kommentare mächtiger Männer über Atomwaffen erinnern uns an die großen Gefahren, denen wir ausgesetzt sind. Als ich Kind war, begingen indische Schulen den Hiroshima-Tag am 6. August mit großer Feierlichkeit. An der Schule wurde ein Vortrag über die Brutalität des Angriffs gehalten, dann gingen wir in unser Klassenzimmer und machten entweder eine Zeichnung oder schrieben eine Geschichte über das, was wir gelernt hatten. Ziel dieser Übungen war es, einen tiefen Hass auf den Krieg in unseren jungen Köpfen zu pflanzen. Es fällt mir auf, dass wir – als menschliche Zivilisation – Hiroshima und Nagasaki und die schrecklichen Waffen vergessen haben, die die Vereinigten Staaten 1945 auf ihre Bevölkerung abgeworfen haben.
Ich habe Jahre damit verbracht, die Worte der Hibakusha, der Überlebenden dieser Angriffe, zu lesen und die Journalisten Wilfred Burchett, John Hersey und Charles Loeb sowie die Schriften von Kenzaburō Ōe, Kōbō Abe, Masuji Ibuse, Michihiko Hachiya, Sankichi Tōge, Shinoe Shōda, Tamiki Hara, Yōko Ōta, Yoshie Hotta und anderen erneut zu lesen. Diese Autor*innen beleuchten die Schrecken des Krieges und des Vergessens, das der Welt von denen aufgedrängt wird, die uns in einen Konflikt nach dem anderen ziehen wollen.
Bei dieser Lektüre stieß ich auf den Austausch zwischen Günther Anders, einem deutschen marxistischen Philosophen, und Claude Eatherly, einem der US-Piloten, die in der Staffel flogen, die Hiroshima bombardierte. Anders schrieb 1959 an Eatherly und begann damit einen Briefwechsel, der dazu führte, dass ein gebrochener Eatherly die Menschen in Hiroshima um Vergebung bat. Die Antwort von dreißig jungen Hibakusha-Frauen an Eatherly hat mich tief bewegt, und ich hoffe, dass sie auch euch bewegen wird:
Wir haben gelernt, dir gegenüber Mitgefühl zu empfinden,
weil wir denken, dass auch du ein Opfer des Krieges bist,
wie wir.
Es ist, als würden die Hibakusha-Frauen die Gefühle kanalisieren, die vor über hundert Jahren den Internationalen Tag der arbeitenden Frauen ins Leben riefen, einen Tag, der 1917 den Anstoß zur Revolution im zaristischen Russland gab. Clara Zetkin, eine der Begründerinnen des Tages, schrieb über den Krieg und seine Spaltungen: «Das Blut der Gefallenen und Verwundeten darf kein Strom sein, der das trennt, was die gegenwärtige Not und die zukünftige Hoffnung vereint».
Herzlichst,
Vijay