In diesen Tagen großer Spannungen ist der Frieden eine Priorität.

Der neunte Newsletter (2022).

Konstan­tin Yuon (UdSSR), People of the Future, 1929.

Liebe Freund*innen,

 

Grüße aus dem Büro des Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

Es ist unmög­lich, nicht berührt zu sein von der Unge­heu­er­lich­keit des Krie­ges, der Häss­lich­keit der Bombar­die­run­gen aus der Luft, den grau­sa­men Ängs­ten der Zivil­be­völ­ke­rung, die zwischen Entschei­dun­gen gefan­gen ist, die nicht die ihren sind. Wenn ihr diese Zeilen lest und annehmt, dass ich von der Ukraine spre­che, dann habt ihr recht, aber natür­lich geht es nicht nur um die Ukraine. In dersel­ben Woche, in der die russi­schen Streit­kräfte in die Ukraine einmar­schiert sind, haben die Verei­nig­ten Staa­ten Luft­an­griffe in Soma­lia gestar­tet, Saudi-Arabien hat den Jemen bombar­diert, und Israel hat Syrien und die paläs­ti­nen­si­sche Bevöl­ke­rung in Gaza angegriffen.

Krieg ist eine offene Wunde in der Seele der Mensch­heit. Er leitet wert­vol­len gesell­schaft­li­chen Reich­tum in die Zerstö­rung ab: «Die Wirkung des Krie­ges ist offen­sicht­lich», schrieb Karl Marx in den Grund­ris­sen (1857–58), «denn ökono­misch ist es genau dasselbe, als wenn die Nation einen Teil ihres Kapi­tals ins Meer werfen würde». Er stört die soziale Einheit und beein­träch­tigt die Möglich­keit von inter­na­tio­na­ler Soli­da­ri­tät: «Die Arbeiter[*innen] der Welt verei­ni­gen sich in Frie­dens­zei­ten», schrieb Rosa Luxem­burg in Entwe­der-Oder (1916), «aber im Krieg schlit­zen sie sich gegen­sei­tig die Kehle auf».

 

Krieg ist nie gut für die Armen. Krieg ist niemals gut für die Arbeiter*innen. Krieg selbst ist ein Verbre­chen. Krieg produ­ziert Verbre­chen. Frie­den ist eine Prio­ri­tät.

Anton Kandin­sky (Ukraine), Grenade, 2012.

 

Der Krieg in der Ukraine hat nicht mit der russi­schen Inter­ven­tion begon­nen. Es gibt eine Reihe von Auslö­sern für diesen Krieg, von denen jeder einzelne wich­tig ist, um zu verste­hen, was heute geschieht.

 

Pluri-Natio­na­lis­mus vs. ethni­scher Chau­vi­nis­mus. Die Ukraine, die aus dem litaui­schen, polni­schen und zaris­ti­schen Reich hervor­ge­gan­gen ist, ist ein pluri­na­tio­na­ler Staat mit großen russisch‑, ungarisch‑, molda­wisch- und rumä­nisch­spra­chi­gen Minder­hei­ten. Als die Ukraine Teil der Sowjet­union war, wurde die Frage der ethni­schen Zuge­hö­rig­keit durch die Tatsa­che in Schach gehal­ten, dass alle Ukrainer*innen Sowjetbürger*innen waren und die sowje­ti­sche Staats­bür­ger­schaft über­eth­nisch war. Als sich die Ukraine 1990 von der Sowjet­union löste, wurde die Frage der ethni­schen Zuge­hö­rig­keit zu einem Hinder­nis für die volle gesell­schaft­li­che Teil­habe aller Ukrainer*innen. Das gesell­schafts­po­li­ti­sche Problem, mit dem die Ukraine konfron­tiert war, war kein Einzel­fall; ethni­scher Natio­na­lis­mus tauchte in fast allen Ländern des post­kom­mu­nis­ti­schen Ostens auf, vom schreck­li­chen Zerfall Jugo­sla­wi­ens, der durch die Unab­hän­gig­keit Kroa­ti­ens 1991 ausge­löst wurde, bis hin zur mili­tä­ri­schen Konfron­ta­tion zwischen Geor­gien und Russ­land im Jahr 2008. Ethni­sche Säube­run­gen wurden als völlig normal ange­se­hen, so z. B. als der Westen 1995 die gewalt­same Vertrei­bung von einer halben Million Serben aus der kroa­ti­schen Krajina beju­belte. Im Gegen­satz dazu wurde die Tsche­cho­slo­wa­kei, eines der Länder im kommu­nis­ti­schen Osten, 1993 entlang ethni­scher Gren­zen fried­lich in die Tsche­chi­sche Repu­blik und die Slowa­kei aufgeteilt.

 

Regio­na­ler Frie­den vs. NATO-Impe­ria­lis­mus, Teil I. Nach dem Zusam­men­bruch der Sowjet­union und der Auflö­sung des Warschauer Vertra­ges (1991) versuch­ten die Verei­nig­ten Staa­ten, ganz Osteu­ropa in die Nord­at­lan­tik­ver­trags-Orga­ni­sa­tion (NATO) aufzu­neh­men. Dies geschah trotz der 1990 mit der letz­ten Regie­rung der Sowjet­union getrof­fe­nen Verein­ba­rung, dass sich die NATO nach den Worten des dama­li­gen US-Außen­mi­nis­ters James Baker «nicht einen Zenti­me­ter nach Osten» bewe­gen würde. In der neuen Peri­ode bemüh­ten sich die osteu­ro­päi­schen Länder und Russ­land um eine Inte­gra­tion in das euro­päi­sche Projekt durch den Beitritt zur Euro­päi­schen Union (zu poli­ti­schen und wirt­schaft­li­chen Zwecken) und zur NATO (zu mili­tä­ri­schen Zwecken). Während der Präsi­dent­schaft von Boris Jelzin (1991–1999) wurde Russ­land NATO-Part­ner und trat der G‑7 bei (die zeit­weise zur G‑8 wurde). Selbst in den Anfangs­jah­ren von Präsi­dent Wladi­mir Putin glaubte Russ­land weiter­hin, dass es in das euro­päi­sche Projekt aufge­nom­men werden würde. Im Jahr 2004 nahm die NATO sieben osteu­ro­päi­sche Staa­ten (Bulga­rien, Estland, Lett­land, Litauen, Rumä­nien, die Slowa­kei und Slowe­nien) auf; der dama­lige NATO-Gene­ral­se­kre­tär Jaap de Hoop Schef­fer erklärte, Russ­land habe verstan­den, dass die NATO «keine Hinter­ge­dan­ken» habe. Moskau stellte jedoch schließ­lich den anhal­ten­den Vormarsch der NATO nach Osten in Frage, und 2007 beschul­digte Putin die NATO, in Osteu­ropa «die Muskeln spie­len zu lassen». Von da an wurde die NATO-Erwei­te­rung zu einer zuneh­mend umstrit­te­nen Ange­le­gen­heit. Obwohl der Beitritt der Ukraine zur NATO im Jahr 2008 von Frank­reich und Deutsch­land blockiert wurde, begann die Frage der Einbe­zie­hung der Ukraine in das NATO-Projekt die russisch-ukrai­ni­sche Poli­tik zu bestim­men. Dieser letzte Punkt verdeut­licht, dass die Diskus­sion über «Sicher­heits­ga­ran­tien» für Russ­land unvoll­stän­dig ist; es geht nicht nur um die Sicher­heits­be­den­ken Russ­lands – schließ­lich ist Russ­land eine bedeu­tende Atom­macht –, sondern auch um die Bezie­hun­gen Euro­pas zu Russ­land. Nämlich, wäre Europa in der Lage, eine Bezie­hung zu Russ­land aufzu­bauen, die nicht auf dem Diktat der USA beruht, Russ­land zu unterwerfen?


Demo­kra­tie vs. der Putsch. 2014 bat der ukrai­ni­sche Präsi­dent Viktor Janu­ko­witsch Russ­land um einen Kredit, den Putin unter der Bedin­gung bereit­stellte, dass Janu­ko­witsch die von der Olig­ar­chie kontrol­lier­ten Finanz­netze des Landes umge­hen würde. Statt­des­sen wandte sich Janu­ko­witsch an die Euro­päi­sche Union (EU), die ähnli­che Ratschläge gab, deren Beden­ken jedoch von den Verei­nig­ten Staa­ten abge­tan wurden – eine Dyna­mik, die deut­lich wurde, als die stell­ver­tre­tende US-Außen­mi­nis­te­rin Victo­ria Nuland dem US-Botschaf­ter in der Ukraine, Geoffrey Pyatt, sagte: «Scheiß auf die EU». Zuvor hatte Nuland mit den Milli­ar­den Dollar geprahlt, die die USA für die «Demo­kra­tie­för­de­rung» in der Ukraine ausga­ben, was in Wirk­lich­keit eine Stär­kung der prowest­li­chen und anti­rus­si­schen Kräfte bedeu­tete. Janu­ko­witsch wurde abge­setzt und in einem parla­men­ta­ri­schen Staats­streich durch eine Reihe von US-gestütz­ten Führungs­po­li­ti­ker (Arse­nij Jazen­juk und Petro Poro­schenko) ersetzt. Präsi­dent Poro­schenko (2014–2019) verfolgte eine ukrai­ni­sche natio­na­lis­ti­sche Agenda unter dem Motto armiia, mova, vira («Mili­tär, Spra­che, Glaube»), die bald Reali­tät wurde mit der Been­di­gung der mili­tä­ri­schen Zusam­men­ar­beit mit Russ­land (2014), der Verab­schie­dung von Geset­zen, die Ukrai­nisch zur «einzi­gen offi­zi­el­len Staats­spra­che» mach­ten und den Gebrauch des Russi­schen und ande­rer Minder­hei­ten­spra­chen einschränk­ten (2019), sowie mit dem Abbruch der Bezie­hun­gen zwischen der ukrai­ni­schen Kirche und dem Moskauer Patri­ar­chen Kirill (2018). Diese Maßnah­men und die Stär­kung neona­zis­ti­scher Elemente haben den pluri­na­tio­na­len Zusam­men­halt des Landes zerrüt­tet und zu einem schwe­ren bewaff­ne­ten Konflikt in der ostukrai­ni­schen Region Donbass geführt, in der eine große russisch­spra­chige ethni­sche Minder­heit lebt. Bedroht durch die staat­li­che Poli­tik und neona­zis­ti­sche Mili­zen, suchte diese Minder­heit Schutz bei Russ­land. Um die gefähr­li­chen ethni­schen Säube­run­gen einzu­däm­men und den Krieg in der Donbass-Region zu been­den, einig­ten sich alle Parteien auf eine Reihe von Dees­ka­la­ti­ons­maß­nah­men, einschließ­lich eines Waffen­still­stands, bekannt als die Mins­ker Verein­ba­run­gen (2014–15).

 

 

Vasi­liy Tsago­lov (Ukraine), Ohne Titel, 2008.

 

 

Regio­na­ler Frie­den vs. NATO-Impe­ria­lis­mus, Teil II. Durch den Westen ermu­tigt, wuchs die Macht der ukrai­ni­schen Ultra­na­tio­na­lis­ten, und die Möglich­keit von Verhand­lun­gen zur Beile­gung des Konflikts schwand. Verstöße gegen die Mins­ker Verein­ba­run­gen durch alle Seiten unter­gru­ben den Prozess. Acht Jahre lang lebten die Menschen im Donbass in einem stän­di­gen Kriegs­zu­stand, der nach Anga­ben der Verein­ten Natio­nen zwischen 2014 und 2021 über 14.000 Tote und über 50.000 Verletzte forderte. Es schien keinen Ausweg aus dieser Situa­tion zu geben. Was begann, war im Wesent­li­chen eine ethni­sche Säube­rung, wobei große Teile der russisch­spra­chi­gen Bevöl­ke­rung über die Grenze in die russi­sche Region Rostow flohen und die ukrai­nisch­spra­chige Bevöl­ke­rung nach Westen zog. Dieser Krise und dem Aufkom­men neona­zis­ti­scher Elemente wurde inter­na­tio­nal wenig Aufmerk­sam­keit geschenkt. Die NATO-Mächte weiger­ten sich, diese Probleme ernst zu nehmen oder Moskau Sicher­heits­ga­ran­tien zu geben, insbe­son­dere die Garan­tie, dass die Ukraine nicht mit Atom­waf­fen ausge­stat­tet und nicht Mitglied der NATO werden würde. Zudem griff Russ­land ein und beschlag­nahmte die Krim, wo seine Marine einen Warm­was­ser­ha­fen besitzt. Diese Maßnah­men haben die Lage weiter desta­bi­li­siert und die Sicher­heit in der Region gefähr­det. Die Weige­rung der NATO, über die Sicher­heit Russ­lands zu verhan­deln war der Auslö­ser für die Intervention.

 

Otto Dix (Deutsch­land), Schä­del, 1924.

 

 

Kriege lassen sehr kompli­zierte histo­ri­sche Vorgänge einfach erschei­nen. Im Ukraine-Krieg geht es nicht nur um die NATO oder um ethni­sche Zuge­hö­rig­keit; es geht um all diese Dinge und mehr. Jeder Krieg muss irgend­wann enden und die Diplo­ma­tie muss neu begin­nen. Anstatt zuzu­las­sen, dass dieser Krieg eska­liert und sich die Posi­tio­nen weiter verhär­ten, ist es wich­tig, dass die Waffen schwei­gen und die Gesprä­che wieder aufge­nom­men werden. Solange nicht zumin­dest die folgen­den drei Punkte auf die Agenda kommen, wird es keine Fort­schritte geben:

 

    1. Die Einhal­tung der Mins­ker Vereinbarungen.

 

    1. Sicher­heits­ga­ran­tien für Russ­land und die Ukraine, was voraus­set­zen würde, dass Europa eine unab­hän­gige Bezie­hung zu Russ­land entwi­ckelt, die nicht von US-Inter­es­sen geprägt ist.

 

    1. Rück­gän­gig­ma­chung der ultra­na­tio­na­lis­ti­schen Gesetze der Ukraine und Rück­kehr zum pluri­na­tio­na­len Vertrag.

 

Wenn es in den nächs­ten Wochen nicht zu substan­zi­el­len Verhand­lun­gen und Verein­ba­run­gen über diese wesent­li­chen Fragen kommt, ist es wahr­schein­lich, dass sich gefähr­li­che Waffen­sys­teme über dünne Trenn­li­nien hinweg gegen­über­ste­hen und weitere Länder in einen Konflikt hinein­ge­zo­gen werden, der außer Kontrolle gera­ten kann.

 

Der sowje­ti­sche ukrai­ni­sche Schrift­stel­ler Mykola Bazhan schrieb das kraft­volle Gedicht Elegie für Zirkus­at­trak­tio­nen (1927) über die Span­nun­gen in einem Zirkus. Könnte es eine bessere Meta­pher für unsere Zeit geben?

 

Eine Dame wird durch­drin­gend schreien …

Dann nimmt Panik das Ziel ins Visier und fliegt

in ihr herz­zer­rei­ßen­des Gebrüll,

und zerknüllt ihre nack­ten Münder!

Zermalmt die Spucke und die Tränen,

verzieht die Lippen zu Fratzen!

Sie schwin­gen wie Leichen an Fäden,

die Stim­men.

 

 

Herz­lichst,

 

Vijay

Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.