In diesen Tagen großer Spannungen ist der Frieden eine Priorität.
Der neunte Newsletter (2022).
Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro des Tricontinental: Institute for Social Research.
Es ist unmöglich, nicht berührt zu sein von der Ungeheuerlichkeit des Krieges, der Hässlichkeit der Bombardierungen aus der Luft, den grausamen Ängsten der Zivilbevölkerung, die zwischen Entscheidungen gefangen ist, die nicht die ihren sind. Wenn ihr diese Zeilen lest und annehmt, dass ich von der Ukraine spreche, dann habt ihr recht, aber natürlich geht es nicht nur um die Ukraine. In derselben Woche, in der die russischen Streitkräfte in die Ukraine einmarschiert sind, haben die Vereinigten Staaten Luftangriffe in Somalia gestartet, Saudi-Arabien hat den Jemen bombardiert, und Israel hat Syrien und die palästinensische Bevölkerung in Gaza angegriffen.
Krieg ist eine offene Wunde in der Seele der Menschheit. Er leitet wertvollen gesellschaftlichen Reichtum in die Zerstörung ab: «Die Wirkung des Krieges ist offensichtlich», schrieb Karl Marx in den Grundrissen (1857–58), «denn ökonomisch ist es genau dasselbe, als wenn die Nation einen Teil ihres Kapitals ins Meer werfen würde». Er stört die soziale Einheit und beeinträchtigt die Möglichkeit von internationaler Solidarität: «Die Arbeiter[*innen] der Welt vereinigen sich in Friedenszeiten», schrieb Rosa Luxemburg in Entweder-Oder (1916), «aber im Krieg schlitzen sie sich gegenseitig die Kehle auf».
Krieg ist nie gut für die Armen. Krieg ist niemals gut für die Arbeiter*innen. Krieg selbst ist ein Verbrechen. Krieg produziert Verbrechen. Frieden ist eine Priorität.
Der Krieg in der Ukraine hat nicht mit der russischen Intervention begonnen. Es gibt eine Reihe von Auslösern für diesen Krieg, von denen jeder einzelne wichtig ist, um zu verstehen, was heute geschieht.
Pluri-Nationalismus vs. ethnischer Chauvinismus. Die Ukraine, die aus dem litauischen, polnischen und zaristischen Reich hervorgegangen ist, ist ein plurinationaler Staat mit großen russisch‑, ungarisch‑, moldawisch- und rumänischsprachigen Minderheiten. Als die Ukraine Teil der Sowjetunion war, wurde die Frage der ethnischen Zugehörigkeit durch die Tatsache in Schach gehalten, dass alle Ukrainer*innen Sowjetbürger*innen waren und die sowjetische Staatsbürgerschaft überethnisch war. Als sich die Ukraine 1990 von der Sowjetunion löste, wurde die Frage der ethnischen Zugehörigkeit zu einem Hindernis für die volle gesellschaftliche Teilhabe aller Ukrainer*innen. Das gesellschaftspolitische Problem, mit dem die Ukraine konfrontiert war, war kein Einzelfall; ethnischer Nationalismus tauchte in fast allen Ländern des postkommunistischen Ostens auf, vom schrecklichen Zerfall Jugoslawiens, der durch die Unabhängigkeit Kroatiens 1991 ausgelöst wurde, bis hin zur militärischen Konfrontation zwischen Georgien und Russland im Jahr 2008. Ethnische Säuberungen wurden als völlig normal angesehen, so z. B. als der Westen 1995 die gewaltsame Vertreibung von einer halben Million Serben aus der kroatischen Krajina bejubelte. Im Gegensatz dazu wurde die Tschechoslowakei, eines der Länder im kommunistischen Osten, 1993 entlang ethnischer Grenzen friedlich in die Tschechische Republik und die Slowakei aufgeteilt.
Regionaler Frieden vs. NATO-Imperialismus, Teil I. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Auflösung des Warschauer Vertrages (1991) versuchten die Vereinigten Staaten, ganz Osteuropa in die Nordatlantikvertrags-Organisation (NATO) aufzunehmen. Dies geschah trotz der 1990 mit der letzten Regierung der Sowjetunion getroffenen Vereinbarung, dass sich die NATO nach den Worten des damaligen US-Außenministers James Baker «nicht einen Zentimeter nach Osten» bewegen würde. In der neuen Periode bemühten sich die osteuropäischen Länder und Russland um eine Integration in das europäische Projekt durch den Beitritt zur Europäischen Union (zu politischen und wirtschaftlichen Zwecken) und zur NATO (zu militärischen Zwecken). Während der Präsidentschaft von Boris Jelzin (1991–1999) wurde Russland NATO-Partner und trat der G‑7 bei (die zeitweise zur G‑8 wurde). Selbst in den Anfangsjahren von Präsident Wladimir Putin glaubte Russland weiterhin, dass es in das europäische Projekt aufgenommen werden würde. Im Jahr 2004 nahm die NATO sieben osteuropäische Staaten (Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien) auf; der damalige NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer erklärte, Russland habe verstanden, dass die NATO «keine Hintergedanken» habe. Moskau stellte jedoch schließlich den anhaltenden Vormarsch der NATO nach Osten in Frage, und 2007 beschuldigte Putin die NATO, in Osteuropa «die Muskeln spielen zu lassen». Von da an wurde die NATO-Erweiterung zu einer zunehmend umstrittenen Angelegenheit. Obwohl der Beitritt der Ukraine zur NATO im Jahr 2008 von Frankreich und Deutschland blockiert wurde, begann die Frage der Einbeziehung der Ukraine in das NATO-Projekt die russisch-ukrainische Politik zu bestimmen. Dieser letzte Punkt verdeutlicht, dass die Diskussion über «Sicherheitsgarantien» für Russland unvollständig ist; es geht nicht nur um die Sicherheitsbedenken Russlands – schließlich ist Russland eine bedeutende Atommacht –, sondern auch um die Beziehungen Europas zu Russland. Nämlich, wäre Europa in der Lage, eine Beziehung zu Russland aufzubauen, die nicht auf dem Diktat der USA beruht, Russland zu unterwerfen?
Demokratie vs. der Putsch. 2014 bat der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch Russland um einen Kredit, den Putin unter der Bedingung bereitstellte, dass Janukowitsch die von der Oligarchie kontrollierten Finanznetze des Landes umgehen würde. Stattdessen wandte sich Janukowitsch an die Europäische Union (EU), die ähnliche Ratschläge gab, deren Bedenken jedoch von den Vereinigten Staaten abgetan wurden – eine Dynamik, die deutlich wurde, als die stellvertretende US-Außenministerin Victoria Nuland dem US-Botschafter in der Ukraine, Geoffrey Pyatt, sagte: «Scheiß auf die EU». Zuvor hatte Nuland mit den Milliarden Dollar geprahlt, die die USA für die «Demokratieförderung» in der Ukraine ausgaben, was in Wirklichkeit eine Stärkung der prowestlichen und antirussischen Kräfte bedeutete. Janukowitsch wurde abgesetzt und in einem parlamentarischen Staatsstreich durch eine Reihe von US-gestützten Führungspolitiker (Arsenij Jazenjuk und Petro Poroschenko) ersetzt. Präsident Poroschenko (2014–2019) verfolgte eine ukrainische nationalistische Agenda unter dem Motto armiia, mova, vira («Militär, Sprache, Glaube»), die bald Realität wurde mit der Beendigung der militärischen Zusammenarbeit mit Russland (2014), der Verabschiedung von Gesetzen, die Ukrainisch zur «einzigen offiziellen Staatssprache» machten und den Gebrauch des Russischen und anderer Minderheitensprachen einschränkten (2019), sowie mit dem Abbruch der Beziehungen zwischen der ukrainischen Kirche und dem Moskauer Patriarchen Kirill (2018). Diese Maßnahmen und die Stärkung neonazistischer Elemente haben den plurinationalen Zusammenhalt des Landes zerrüttet und zu einem schweren bewaffneten Konflikt in der ostukrainischen Region Donbass geführt, in der eine große russischsprachige ethnische Minderheit lebt. Bedroht durch die staatliche Politik und neonazistische Milizen, suchte diese Minderheit Schutz bei Russland. Um die gefährlichen ethnischen Säuberungen einzudämmen und den Krieg in der Donbass-Region zu beenden, einigten sich alle Parteien auf eine Reihe von Deeskalationsmaßnahmen, einschließlich eines Waffenstillstands, bekannt als die Minsker Vereinbarungen (2014–15).
Regionaler Frieden vs. NATO-Imperialismus, Teil II. Durch den Westen ermutigt, wuchs die Macht der ukrainischen Ultranationalisten, und die Möglichkeit von Verhandlungen zur Beilegung des Konflikts schwand. Verstöße gegen die Minsker Vereinbarungen durch alle Seiten untergruben den Prozess. Acht Jahre lang lebten die Menschen im Donbass in einem ständigen Kriegszustand, der nach Angaben der Vereinten Nationen zwischen 2014 und 2021 über 14.000 Tote und über 50.000 Verletzte forderte. Es schien keinen Ausweg aus dieser Situation zu geben. Was begann, war im Wesentlichen eine ethnische Säuberung, wobei große Teile der russischsprachigen Bevölkerung über die Grenze in die russische Region Rostow flohen und die ukrainischsprachige Bevölkerung nach Westen zog. Dieser Krise und dem Aufkommen neonazistischer Elemente wurde international wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Die NATO-Mächte weigerten sich, diese Probleme ernst zu nehmen oder Moskau Sicherheitsgarantien zu geben, insbesondere die Garantie, dass die Ukraine nicht mit Atomwaffen ausgestattet und nicht Mitglied der NATO werden würde. Zudem griff Russland ein und beschlagnahmte die Krim, wo seine Marine einen Warmwasserhafen besitzt. Diese Maßnahmen haben die Lage weiter destabilisiert und die Sicherheit in der Region gefährdet. Die Weigerung der NATO, über die Sicherheit Russlands zu verhandeln war der Auslöser für die Intervention.
Kriege lassen sehr komplizierte historische Vorgänge einfach erscheinen. Im Ukraine-Krieg geht es nicht nur um die NATO oder um ethnische Zugehörigkeit; es geht um all diese Dinge und mehr. Jeder Krieg muss irgendwann enden und die Diplomatie muss neu beginnen. Anstatt zuzulassen, dass dieser Krieg eskaliert und sich die Positionen weiter verhärten, ist es wichtig, dass die Waffen schweigen und die Gespräche wieder aufgenommen werden. Solange nicht zumindest die folgenden drei Punkte auf die Agenda kommen, wird es keine Fortschritte geben:
- Die Einhaltung der Minsker Vereinbarungen.
- Sicherheitsgarantien für Russland und die Ukraine, was voraussetzen würde, dass Europa eine unabhängige Beziehung zu Russland entwickelt, die nicht von US-Interessen geprägt ist.
- Rückgängigmachung der ultranationalistischen Gesetze der Ukraine und Rückkehr zum plurinationalen Vertrag.
Wenn es in den nächsten Wochen nicht zu substanziellen Verhandlungen und Vereinbarungen über diese wesentlichen Fragen kommt, ist es wahrscheinlich, dass sich gefährliche Waffensysteme über dünne Trennlinien hinweg gegenüberstehen und weitere Länder in einen Konflikt hineingezogen werden, der außer Kontrolle geraten kann.
Der sowjetische ukrainische Schriftsteller Mykola Bazhan schrieb das kraftvolle Gedicht Elegie für Zirkusattraktionen (1927) über die Spannungen in einem Zirkus. Könnte es eine bessere Metapher für unsere Zeit geben?
Eine Dame wird durchdringend schreien …
Dann nimmt Panik das Ziel ins Visier und fliegt
in ihr herzzerreißendes Gebrüll,
und zerknüllt ihre nackten Münder!
Zermalmt die Spucke und die Tränen,
verzieht die Lippen zu Fratzen!
Sie schwingen wie Leichen an Fäden,
die Stimmen.
Herzlichst,
Vijay