Welches Rote Buch lest ihr dieses Jahr am Tag des Roten Buches (21. Februar)?
Der siebte Newsletter (2022).
Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro des Tricontinental: Institute for Social Research.
Am 16. Februar 2015 machten Govind und Uma Pansare einen Morgenspaziergang in der Nähe ihres Hauses in Kolhapur, im westlichen Bundesstaat Maharashtra, Indien. Zwei Männer auf einem Motorrad hielten sie an und fragten nach dem Weg, aber die Pansares konnten ihnen nicht helfen. Einer der Männer lachte, zog eine Waffe und schoss auf die beiden. Uma Pansare wurde getroffen, überlebte aber den Angriff. Ihr Ehemann, Govind Pansare, starb kurz darauf am 20. Februar im Alter von 82 Jahren in einem Krankenhaus.
Govind Pansare wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf und hatte das Glück, eine Schule besuchen zu können, wo er mit marxistischen Ideen in Berührung kam. Im Jahr 1952, im Alter von 19 Jahren, trat Pansare der Kommunistischen Partei Indiens (CPI) bei. Während seines Studiums in Kolhapur war Pansare oft am Republic-Bücherstand anzutreffen, wo er marxistische Klassiker und sowjetische Romane verschlang, die über das People’s Publishing House der CPI nach Indien kamen. Als Anwalt arbeitete Pansare mit Gewerkschaften und Organisationen, die in den Armenvierteln verwurzelt waren. Er las eifrig und erforschte die Geschichte von Maharashtra, um besser zu verstehen, wie man sich von elenden Bräuchen wie dem Kastensystem und dem religiösen Fundamentalismus befreien konnte.
Aus seiner Welt des Kampfes und seiner Welt der Bücher erwuchs Pansares Engagement für die Kultur und die geistige Befreiung. Zusammen mit seinen Genoss*innen gründete er die Shramik Pratishthan (Arbeiterstiftung), die nicht nur Bücher veröffentlichte, sondern auch Seminare und Vorträge veranstaltete. Eines der beliebtesten Programme der Stiftung war das jährliche Literaturfestival zu Ehren des Marathi-Schriftstellers Annabhau Sathe. 1987 schrieb Pansare ein Buch mit dem Titel Shivaji Kon Hota? Oder – in der englischen Ausgabe von LeftWord Books – Who was Shivaji? Er befreite den Krieger Shivaji aus dem 17. Jahrhundert von den Manipulationen der extremen Rechten in Indien, die ihn in ihren Büchern fälschlicherweise als Hindu-Krieger darstellten, der gegen Muslim*innen kämpfte. Tatsächlich verhielt sich Shivaji den Muslim*innen gegenüber gutmütig, weswegen Pansare diese Verfälschungen aus der Welt räumte.
Die Ermordung von Pansare ist eine von vielen Aktionen gegen linksgerichtete Schriftsteller*innen und politische Persönlichkeiten. Kein Land ist davor gefeit, überall auf der Welt werden linke Buchläden angegriffen und linke Verlage bedroht. Wie uns Héctor Béjar, der ehemalige Außenminister Perus, in unserem jüngsten Dossier sagte, haben rechte Intellektuelle einfach nicht das geistige Gewicht, die Schlüsselfragen unserer Zeit zu diskutieren. Sie verfügen weder über Fakten noch eine Theorie, um kohärente Argumente für Bigotterie oder Klimazerstörung, soziale Ungleichheit oder ihre Interpretation der Geschichte vorzubringen. Die Intellektuellen der Rechten nutzen stattdessen obskures und irrationales Denken zusammen mit ihren anderen Waffen: offene Einschüchterung und Gewalt. Der Aufstieg neofaschistischer Politiker*innen und Parteien verschafft dem Abschaum, der zu Waffen und Schlagstöcken greift, um Menschen wie Pansare anzugreifen und zu töten, den Anschein von Seriosität.
Gerechtigkeit für Menschen wie Govind Pansare ist schwer zu erreichen, ebenso wie für Chokri Belaïd (Tunesien), Chris Hani (Südafrika), Gauri Lankesh (Indien), Marielle Franco (Brasilien), Nahed Hattar (Jordanien) und viele andere. Sie alle waren einfühlsame Menschen, die den gefährlichen Schritt wagten, für etwas Größeres als unsere gegenwärtige Welt zu kämpfen.
Pansares Schwiegertochter, Dr. Megha Pansare, schickte eine Botschaft an Tricontinental: Institute for Social Research: «Der Raum für freie Meinungsäußerung schrumpft in unserem Land. Es gibt regelmäßig Angriffe auf Journalist*innen und Künstler*innen, Intellektuelle und Bäuer*innen. Wir waren gezwungen, für die Ausweitung des öffentlichen Raums zu kämpfen. Es ist äußerst besorgniserregend zu sehen, wie der Staat religiös-fundamentalistische Kräfte schützt. Wir müssen unsere Stimme erheben, um zu verhindern, dass wir mit Waffengewalt zum Schweigen gebracht werden».
Die International Union of Left Publishers veröffentlichte eine Erklärung, in der sie Gerechtigkeit für Govind Pansare forderte: «Sieben Jahre sind vergangen, und die Polizei hat noch immer keine Fakten gesammelt», schreiben sie. «Die ganze Welt ist Zeuge der steigenden Tendenz von Hassverbrechen in Indien und von Verbrechen gegen die indische Kultur (einschließlich der Ermordung von Schriftsteller*innen). Wir, die International Union of Left Publishers, stehen in Solidarität mit den Familien der Opfer und erheben unsere Stimme zur Verteidigung der fortschrittlichen und humanen Werte des Säkularismus, des sozialen Fortschritts und der sozialen Gerechtigkeit».
Einige Jahre nach der Ermordung von Govind Pansare entwickelte LeftWord Books in Neu-Delhi die Idee eines Tages der roten Bücher. Damit sollten radikale Bücher und die Menschen und Institutionen, die sie herstellen, gefeiert werden. Wie wir Pansare kennen, wäre ihm bewusst gewesen, was für ein wichtiger Jahrestag der Tag nach seinem Tod ist. Am 21. Februar 1848 veröffentlichten Karl Marx und Friedrich Engels das Kommunistische Manifest, nur wenige Monate bevor die Revolutionen über Europa hinwegfegten, die später als printemps des peuples oder «Völkerfrühling» bezeichnet wurden. Das Manifest ist nicht nur eines der meistgelesenen Bücher unserer Zeit, sondern wurde 2013 von der Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) in ihr Programm Memory of the World aufgenommen. Diese Initiative der UNESCO soll das Erbe der Menschheit vor dem «Zahn der Zeit» und der «kollektiven Amnesie» bewahren. Deshalb hat LeftWord Books zusammen mit der indischen Society of Left Publishers beschlossen, einen weltweiten Aufruf zum Tag des Roten Buches zu starten, der jedes Jahr am 21. Februar stattfindet.
Als am 21. Februar 2020 der erste Tag des Roten Buches stattfand, nahmen dreißigtausend Menschen von Südkorea bis Venezuela an der öffentlichen Lesung des Manifests teil. Hinzu kam, dass die Vereinten Nationen den 21. Februar auch zum Internationalen Tag der Muttersprache erklärt hatten. Das Manifest wurde in der Sprache der Menschen verlesen, die es lasen – auf Koreanisch zu Beginn des Tages und auf Spanisch am Ende des Tages. Die meisten Leser des Manifests gab es an diesem Tag zweifellos im indischen Bundesstaat Tamil Nadu, wo der Verlag Bharathi Puthakalayam und die Kommunistische Partei Indiens (marxistisch) zehntausend Menschen in die Feierlichkeiten einbezogen. Die Lesungen begannen unter der Triumph of Labour-Statue, die 1959 am Marina Beach von Chennai errichtet wurde, genau an der Stelle, an der der 1. Mai in Indien 1923 zum ersten Mal gefeiert wurde. Das Buch wurde von kommunistischen Bauernorganisatoren in Nepal und in den besetzten Siedlungen der Bewegung der landlosen Arbeiter*innen (MST) in Brasilien auf den Feldern vorgelesen; es wurde in Studienkreisen in Havanna (Kuba) gelesen und zum ersten Mal in Sesotho (eine der elf Amtssprachen Südafrikas) vorgelesen. Es wurde auf Gälisch bei Connolly Books (Dublin, Irland) und auf Arabisch in einem Café in Beirut (Libanon) gelesen. Bharathi Puthakalayam veröffentlichte zu diesem Anlass eine neue Übersetzung ins Tamilische von M. Sivalingam, während Prajasakti und Nava Telangana eine neue Übersetzung ins Telugu von A. Gandhi herausgaben.
Im Anschluss an den Tag des roten Buches startete eine Gruppe von Verlegern – auf Einladung der Indian Society of Left Publishers – die Gründung der International Union of Left Publishers (Internationale Vereinigung von linken Verlagen, kurz IULP). Im Laufe der letzten zwei Jahre hat die IULP vier gemeinsame Bücher herausgegeben: Lenin 150, Mariátegui, Che, und Paris Commune 150. Zum 150. Jahrestag der Pariser Kommune brachten siebenundzwanzig Verlage am selben Tag, dem 28. Mai 2021, ein Buch in fast ebenso vielen Sprachen heraus – eine einzigartige Leistung in der Geschichte des Verlagswesens. In diesem Jahr wird die IULP zwei weitere Bücher veröffentlichen, die die wichtigsten Texte von Alexandra Kollontai (Mai) und Ruth First (August) versammeln. In der Zwischenzeit entwickelt die Vereinigung ihre Grundsätze für den Austausch von Büchern zwischen Verlagen und für das gemeinsamen Eintreten gegen die Angriffe auf Autor*innen, Verleger*innen, Druckereien und Buchhandlungen weiter.
Der Tag des Roten Buches ist eine Initiative der IULP, aber wir hoffen, dass er Teil eines umfassenderen globalen Kalenders jährlicher kultureller Aktivitäten wird. Auf der Website des Red Books Day kann jede*r Informationen über seine*ihre Aktivitäten an diesem Tag veröffentlichen, sogar ein Austellung von Postern zum Red Books Day, organisiert von den Jungen Sozialistischen Künstlern. Anstatt darauf zu bestehen, dass alle dasselbe Buch lesen, sollen die Menschen in diesem Jahr ein beliebiges rotes Buch in der Öffentlichkeit oder online lesen. In Tamil Nadu zum Beispiel wird es in diesem Jahr Engels’ Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft (1880) sein. Andere werden das Manifest oder Gedichte über den menschlichen Geist auf der Suche nach Emanzipation lesen.
Hoch oben in der Sierra Maestra verbrachten Fidel Castro und seine Genoss*innen lange Abende damit, alles zu lesen, was sie finden konnten. Als sie die Granma in Mexiko bestiegen, hatten sie Waffen, Lebensmittel und Medikamente dabei, aber nicht viele Bücher. Was sie hatten, mussten sie weitergeben: Curzio Malapartes Die Haut (1949) über die Besetzung Neapels durch die Nazis und Émile Zolas beeindruckender Thriller Die Bestie im Menschen (1890). Sie besaßen sogar ein Exemplar von Edward Gibbons The History of the Decline and Fall of the Roman Empire (1776), dessen Lektüre beinahe zum Tod Che Guevaras bei einem Luftangriff geführt hätte.
Einer der Guerilla-Kämpfer*innen, Salustiano de la Cruz Enríquez (auch bekannt als Crucito), komponierte Balladen im Stil der alten kubanischen Guajira. Er saß am Lagerfeuer und sang seine Gedichte, während er auf der Gitarre spielte. «Dieser großartige Genosse hatte die gesamte Geschichte der Revolution in Balladen festgehalten, die er an jeder Raststätte verfasste, während er an seiner Pfeife paffte», schrieb Che Guevara in seinen Episoden aus dem Revolutionskrieg (1968). Da es in der Sierra nur wenig Papier gab, komponierte er die Balladen in seinem Kopf, so dass nichts davon übrig blieb, als eine Kugel seinem Leben in der Schlacht von Pino del Agua im September 1957 ein Ende setzte. Crucito nannte sich selbst el Ruiseñor de la Sierra Maestra — «die Nachtigall der Sierra Maestra». An diesem Tag der Roten Bücher werde ich mir seine Balladen vorstellen und seine vergessenen Melodien summen, um Menschen wie Crucito und Govind Pansare zu ehren, die immer wieder versuchen, die Welt zu einem besseren Ort für Mensch und Natur zu machen.
Herzliche Grüße,
Vijay.
PS: Mein rotes Buch, das ich dieses Jahr lesen werde, ist Unforgettable Days von Võ Nguyên Giáp (Hanoi: Foreign Languages Publishing House, 1975).