Wir müssen die »stille Krise« des globalen Analphabetismus hörbar machen.
Der fünfte Newsletter (2022).
Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro des Tricontinental: Institute for Social Research.
Im Oktober 2021 veranstaltete die Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Lateinamerika und die Karibik (ECLAC) ein Seminar zum Thema Pandemie und Bildungssysteme. Auffallend ist, dass der Präsenzunterricht für 99 % der Schüler*innen in der Region ein ganzes akademisches Jahr teilweise oder vollständig ausfiel und mehr als 600.000 Kinder mit dem Verlust ihrer Bezugspersonen aufgrund der Pandemie zu kämpfen hatten. Schätzungen zufolge könnte die Krise 3,1 Millionen Kinder und Jugendliche zum Abbruch der Schule und über 300.000 zum Aufnehmen einer Arbeit zwingen. Auf dem Seminar sagte Alicia Bárcena, die Exekutivsekretärin der ECLAC, dass die Kombination aus Pandemie, regionalen wirtschaftlichen Turbulenzen und Rückschlägen im Bildungswesen eine «stille Krise» verursacht habe.
Die Situation ist in der ganzen Welt katastrophal, wobei der Ausdruck «stille Krise» vielleicht umfassender anzuwenden ist. Die Vereinten Nationen stellen fest, dass «mehr als 1,5 Milliarden Student*innen und Jugendliche auf der ganzen Welt von Schul- und Universitätsschließungen aufgrund der COVID-19-Pandemie betroffen sind oder waren»; mindestens eine Milliarde Schulkinder sind gefährdet, in ihrer Ausbildung zurückzufallen. «Menschen in ärmeren Haushalten», so die UN, «haben zu Hause keinen Internetzugang, keinen Computer, keinen Fernseher und nicht einmal ein Radio, was die Auswirkungen der bestehenden Ungleichheiten beim Lernen noch verstärkt». Nahezu ein Drittel aller Kinder – mindestens 463 Millionen – haben keinen Zugang zu Technologien für Fernunterricht; drei von vier dieser Kinder kommen aus ländlichen Gebieten, die meisten von ihnen aus den ärmsten Haushalten. Aufgrund der Schulschließungen während des Lockdowns und der fehlenden Infrastruktur für das Online-Lernen besteht für viele Kinder die Gefahr, dass sie nie wieder in die Schule zurückkehren, wodurch jahrelange Fortschritte im Bildungsbereich auf der ganzen Welt zunichte gemacht werden.
2015 einigten sich die 193 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen auf die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung, in der siebzehn Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) festgelegt wurden, die innerhalb von fünfzehn Jahren erreicht werden sollen. Der gesamte SDG-Prozess, der im Jahr 2000 mit den Millenniums-Entwicklungszielen zur Verringerung der Armut begann, stieß auf breite Zustimmung. Das vierte SDG lautet: «Eine integrative und gerechte Qualitätsbildung gewährleisten und Möglichkeiten des lebenslangen Lernens für alle fördern». Als Teil des Prozesses zur Verwirklichung dieses Ziels haben die Vereinten Nationen und die Weltbank gemeinsam ein Konzept namens «Lernarmut» entwickelt, das definiert ist als «nicht in der Lage sein, im Alter von 10 Jahren einen einfachen Text zu lesen und zu verstehen». Das Konzept der «Lernarmut» gilt für 53 % der Kinder in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen und für bis zu 80 % der Kinder in armen Ländern. Vor der Pandemie war klar, dass bis 2030 die SDG-Ziele für 43 % der Kinder weltweit nicht erreichbar waren. Die Vereinten Nationen berichten nun, dass im Jahr 2020 weitere 101 Millionen oder 9 % der Kinder in den Klassen 1 bis 8 «unter das Mindestniveau der Lesekompetenz fallen» und dass die Pandemie «die in den letzten 20 Jahren erzielten Bildungsgewinne zunichte gemacht hat». Es ist inzwischen allgemein anerkannt, dass das vierte SDG für sehr lange Zeit nicht realisierbar sein wird.
Die UN und die Weltbank haben Alarm geschlagen, dass diese «stille Krise» verheerende Auswirkungen auf die wirtschaftliche Zukunft der Schüler*innen haben wird. Sie schätzen, dass «diese Generation von Kindern jetzt Gefahr läuft, aufgrund von COVID-19-bedingten Schulschließungen und wirtschaftlichen Schocks 17 Billionen Dollar an Lebenseinkommen zu verlieren, was etwa 14 % des heutigen globalen BIP entspricht». Die Schüler*innen werden nicht nur Billionen von Dollar an Lebenseinkommen verlieren, sondern auch soziales, kulturelles und intellektuelles Wissen und Fähigkeiten verlieren, die für den Fortschritt der Menschheit unerlässlich sind.
Schon jetzt legen die Bildungseinrichtungen von den ersten Schuljahren bis zur Universität den Schwerpunkt auf die Kommerzialisierung der Bildung. Der Rückgang der geisteswissenschaftlichen Grundausbildung ist zu einem globalen Problem geworden, das die Weltbevölkerung einer Grundlage in Geschichte, Sozialwissenschaften, Literatur und Kunst beraubt, die ein umfassenderes Verständnis dafür vermittelt, was es bedeutet, in einer Gesellschaft zu leben und eine Weltbürger*in zu sein. Diese Art von Bildung ist ein Gegenmittel gegen die giftigen Formen von Hurrapatriotismus und Fremdenfeindlichkeit, die uns im Stechschritt in die Vernichtung und Auslöschung führen.
Kultureinrichtungen sind von der «stillen Krise» am stärksten betroffen. Eine UNESCO-Studie über die Auswirkungen der Pandemie auf 104.000 Museen in der ganzen Welt ergab, dass fast die Hälfte dieser Einrichtungen im Jahr 2020 mit einem erheblichen Rückgang der öffentlichen Mittel rechnen musste und im darauffolgenden Jahr nur noch geringe Zuwächse verzeichneten. Teilweise aufgrund von Schließungen und teilweise aufgrund von Finanzierungsproblemen gingen die Besucherzahlen in den beliebtesten Kunstmuseen der Welt im Jahr 2020 um 77 % zurück. Zusätzlich zur Pandemie hat der Aufstieg des Plattform-Kapitalismus — wirtschaftliche Aktivitäten, die auf internetbasierten Plattformen beruhen — die Privatisierung des Kulturkonsums beschleunigt, wobei öffentliche Formen der kulturellen Darbietung durch öffentliche Bildung, öffentliche Museen und Galerien sowie öffentliche Konzerte nicht mit Netflix und Spotify Schritt halten können. Die Tatsache, dass nur 29 % der Menschen in den afrikanischen Ländern südlich der Sahara einen Internetzugang haben, macht die Ungleichheiten im kulturellen Leben zu einem noch dringlicheren Problem.
Die Art und Weise, wie Lehrer*innen während der Pandemie behandelt wurden, verdeutlicht den geringen Stellenwert, der dieser wichtigen Aufgabe und der Bildung im Allgemeinen in unserer globalen Gesellschaft beigemessen wird. Nur in 19 Ländern wurden Lehrer*innen in die erste Prioritätsgruppe für die Impfung mit dem COVID-19-Impfstoff eingestuft, zusammen mit den Beschäftigten in systemrelevanten Berufen.
In den letzten Wochen haben wir in diesem Newsletter auf den Plan zur Rettung des Planeten hingewiesen, den wir zusammen mit 26 Forschungsinstituten aus der ganzen Welt unter der Leitung der Bolivarischen Allianz für die Völker unseres Amerikas – Vertrag über den Handel der Völker (ALBA-TCP) entwickelt haben. Wir verweisen weiterhin auf diesen Text, weil er die bisherige Sichtweise, wie wir in unseren gemeinsamen globalen Kämpfen vorgehen müssen, erheblich in Frage stellt. Was beispielsweise die Bildung betrifft, so bauen wir unseren Rahmen für den Planeten auf der Grundlage des Bedarfs an Lehrern*innen und Schüler*innen auf und nicht zentral auf dem BIP oder dem Wert des Geldes. Zum Thema Bildung haben wir eine Liste mit elf Forderungen aufgestellt – nicht umfassend, aber anregend. Hier könnt ihr sie lesen.
Bitte lest diesen Plan sorgfältig durch. Wir freuen uns auf eure Beiträge, die ihr uns hoffentlich an plan@thetricontinental.org schicken werdet. Wenn ihr diese Ideen nützlich findet, verbreitet sie bitte weiter. Wenn ihr euch fragt, wie wir diese Ideen zu finanzieren gedenken, werft bitte einen Blick auf den vollständigen Plan (derzeit liegen übrigens mindestens 37 Billionen Dollar in illegalen Steueroasen).
In Honduras werden erste Schritte in diese Richtung unternommen. Am 27. Januar übernahm Präsidentin Xiomara Castro als erste weibliche Regierungschefin in der Geschichte des Landes das Ruder. Sie versprach sofort, mehr als eine Million der fast zehn Millionen Einwohner von Honduras kostenlos mit Strom zu versorgen. Dies wird den ärmsten Honduraner*innen die Möglichkeit geben, ihren kulturellen Horizont zu erweitern, und die Chancen der Kinder erhöhen, während der Pandemie am Online-Lernen teilzunehmen. Am Tag der Amtseinführung von Präsidentin Castro habe ich die schönen Worte der nicaraguanisch-salvadorianischen Dichterin Claribel Alegría gelesen, die sich mit ihren wunderbaren Gedichten für den Fortschritt der Menschen in Mittelamerika engagierte. 1978, kurz vor der nicaraguanischen Revolution, erhielt Alegría den Preis der Casa de las Américas für ihre Sammlung Sobrevivo («Ich überlebe»). Zusammen mit D. J. Flakoll schrieb sie die gültige Geschichte der sandinistischen Revolution, Nicaragua, la revolución sandinista: una crónica política 1855–1979 («Die sandinistische Revolution — eine politische Chronik, 1855–1979»), die 1982 erschien. Das Fragment ihres Gedichts Contabilizando («Abrechnung») in ihrem Buch Fugues (1993) lehrt uns die Bedeutung von Poesie und Offenbarung und die Bedeutung von Träumen und Hoffnung für den menschlichen Fortschritt:
Ich weiß nicht, wie viele Jahre
der Traum von der Befreiung meines Volkes
der sichere unsterbliche Tod
die Augen des hungernden Kindes
deine Augen, die mich mit Liebe überfluten
an einem Vergissmeinnicht-Nachmittag
und in dieser schwülen Stunde
der Drang, ich selbst zu werden
in einem Vers
einem Schrei
einem Fleckchen Schaum.
Herzlichst,
Vijay