Wir sind Menschen und in der Dunkelheit sehnen wir uns nach Licht.
Der dritte Newsletter (2022).
Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro des Tricontinental: Institute for Social Research.
Seit über einem Jahrzehnt geht Alaa Abd el-Fattah in ägyptischen Gefängnissen ein und aus, nie frei von den Schikanen des militärischen Staatsapparats. Im Jahr 2011, auf dem Höhepunkt der Revolution, wurde Alaa zu einer wichtigen Stimme seiner Generation und ist seither ein fester moralischer Kompass, obwohl sein Land ihn zum Verstummen bringen will. Am 25. Januar 2014, dem dritten Jahrestag des Sturzes der Regierung von Hosni Mubarak, schrieben Alaa und der Dichter Ahmed Douma einen bewegenden Brief aus ihrem Kerker im Tora-Gefängnis in Kairo. Dieses Gefängnis, in dem Alaa und andere politische Gefangene inhaftiert sind, liegt nicht weit vom schönen Nil und – je nach Verkehrsaufkommen in Kairo – nicht allzu weit vom Büro von Mada Masr in Garden City, wo der Brief veröffentlicht wurde. In Städten wie Kairo befinden sich die Gefängnisse, in welchen politische Gefangene gefoltert werden, oft in ganz gewöhnlichen Vierteln.
«Wer sagt, dass wir unvergleichbar sind? Oder dass wir eine entrückte Generation sind?», schrieben Douma und Alaa und machten sich Gedanken über die Idee, der Aufstand von 2011 sei außergewöhnlich gewesen. «Wir sind Menschen», schrieben sie, «und in der Dunkelheit sehnen wir uns nach Licht». Das Arabische Netzwerk für Menschenrechtsinformationen schätzt die Zahl der politischen Gefangenen in Ägypten seit der Machtübernahme durch Präsident Abdel Fattah al-Sisi im Jahr 2013 auf 65.000. Alaa wird aufgrund einer Reihe von Anklagepunkten festgehalten, aber die meisten davon gehen auf eine leichtfertige und böswillige Anschuldigung zurück, er habe einen Protest organisiert, der etwa fünfzehn Minuten gedauert hat; für diese fünfzehn Minuten war er die letzten zehn Jahre inhaftiert.
Wie viele sensible Menschen auf der ganzen Welt werden in Gefängnissen festgehalten, unter lächerliche Anklagen gestellt? Die Berichte, die im Internet kursieren – viele von ihnen von Menschenrechtsgruppen mit Sitz im Westen – sind nicht ganz glaubwürdig, da sie die Bilanzen westlicher Regierungen und prowestlicher Regime nicht einbeziehen oder herunterspielen. Die Regierung der Vereinigten Staaten zum Beispiel leugnet, dass sie politische Gefangene hält, obwohl es internationale Kampagnen für die Freilassung von Menschen wie Alvaro Luna Hernandez (La Raza), den Holy Land Five, Leonard Peltier (American Indian Movement), Marius Manson (Earth Liberation Front), Mumia Abu-Jamal (MOVE) und Mutulu Shakur (Black Liberation Army) gibt. «Diese Menschen werden ohne triftigen Grund inhaftiert, oft weil sie ihre Menschenrechte – wie das Recht auf freie Meinungsäußerung – friedlich wahrgenommen oder die Rechte anderer verteidigt haben. Vielleicht haben sie eine Oppositionspartei organisiert. Sie haben über Missbrauch und Korruption berichtet. Haben an einem friedlichen Protest teilgenommen». Dies sind die Worte des US-Außenministers Antony Blinken vom 7. Dezember 2021. Ironischerweise treffen seine Worte sowohl auf Dissident*innen innerhalb der Vereinigten Staaten als auch auf Dissident*innen von US-Verbündeten wie Saudi-Arabien und Kolumbien zu.
Am 20. Dezember 2021, knapp zwei Wochen nach Blinkens Äußerungen, verurteilte das ägyptische Staatssicherheitsgericht Alaa zu weiteren fünf Jahren Gefängnis, ebenso wie Mohamed al-Baqer und Mohamed «Oxygen» Ibrahim, die zu je vier Jahren verurteilt wurden. Damals sagte der Sprecher des US-Außenministeriums, Ned Price, in seinen wöchentlichen Erklärungen, dass die USA von diesen Urteilen «enttäuscht» seien. Einige Wochen später antwortete Ahmed Hafez, Sprecher des ägyptischen Außenministeriums, mit den Worten: «Es ist unangebracht, ägyptische Gerichtsurteile zu kommentieren oder zu besprechen». Das war’s dann auch schon. Jedes Jahr stellt die US-Regierung Ägypten 1,4 Milliarden Dollar an Hilfsgeldern zur Verfügung, das meiste davon für das Militär; jedes Jahr machen die USA ein großes Aufheben darum, etwas mehr als 100 Millionen Dollar dieser Gelder mit der Begründung zurückzuhalten, die Menschenrechte zu verteidigen, obwohl das Geld später unter Berufung auf die «nationale Sicherheit» an Ägypten freigegeben wird. Es wird viel von «Menschenrechten» geredet, aber keine wirkliche Sorge um die Abwürgung der demokratischen Prozesse im Land gezeigt. «In der Dunkelheit», schreiben Douma und Alaa, «sehnen wir uns nach Licht». Aber in der Dunkelheit stellen Waffengeschäfte und Rücksicht auf die «nationale Sicherheit» Demokratie und Menschenrechte in den Hintergrund.
Der Arabische Frühling – dessen Zentrum die Steinplatte auf dem Tahrir-Platz war – liegt in Trümmern. Tunesien, wo der gesamte Prozess seinen Anfang nahm, kämpft mit einer Regierung, die ihre demokratischen Institutionen außer Kraft gesetzt hat, in der Hoffnung, die soziale Krise zu bewältigen, die der COVID-19-Pandemie vorausging, sich aber durch sie noch weiter verschärft hat. Am 14. Januar, dem Jahrestag des Sturzes von Präsident Zine el-Abidine Ben Ali im Jahr 2011, führte die Arbeiterpartei Tunesiens einen Marsch vom Platz der Republik in Tunis zur Zentralbank mit dem Slogan «Kein Populismus, kein Fundamentalismus, keine Reaktionäre» an. Sie wandten sich gegen das alte Regime von Ben Ali, die Islamisten und nun gegen die «populistische» Präsidentschaft von Kais Saied. Die Arbeiterpartei wies darauf hin, dass die Wirtschaftskrise, die durch den Internationalen Währungsfonds verschärft wurde und die Revolution von 2011 ausgelöst hat, nach wie vor nicht gelöst ist. Auch die Vereinten Nationen haben ihre Besorgnis über den Einsatz interner Sicherheitskräfte in Tunesien geäußert, die grundlegende politische Rechte einschränken.
In Marokko ist die Lage katastrophal. Das politische Regime um König Mohamed VI. wird Makhzen genannt (ein Begriff, der «Lagerhaus» bedeutet und sich auf den Ort bezieht, an dem die Untergebenen des Königs bezahlt werden). Der König ist zwischen 2,1 und 8 Milliarden Dollar wert, und das in einem Land, in dem fast jede*r Fünfte unterhalb der Armutsgrenze lebt und in dem die soziale Not während der Pandemie zugenommen hat. Im Jahr 2015, nachdem die Bewegung des 20. Februar 2011 die Gesellschaft erschüttert hatte, besuchte ich das Büro der marokkanischen Vereinigung für Menschenrechte in Rabat und hörte eine realistische Berichterstattung über den Mangel an politischen Grundfreiheiten im Land. Wie mutige Menschenrechtsverteidiger*innen in anderen Ländern zählten die Marokkaner*innen, die ich traf, die Namen von Menschen auf, die zu Unrecht verhaftet worden waren, und zeichneten ein Bild von den Schwierigkeiten, in dem Land «einen Staat der Wahrheit und des Rechts» aufzubauen.
Damals erfuhr ich vom Fall von Naâma Asfari, der 2010 verhaftet worden war und wegen seines Engagements für die Besetzung der Westsahara eine dreißigjährige Haftstrafe verbüßte. Sein Fall und der von Khatri Dadda, einem jungen saharauischen Journalisten, der 2019 verhaftet und zu zwanzig Jahren Haft verurteilt wurde, erregten die Aufmerksamkeit von Mary Lawlor, der Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen für die Situation von Menschenrechtsverteidiger*innen. Im Juli 2021 erklärte Lawlor: «Menschenrechtsverteidiger*innen, die sich für die Menschenrechte in Marokko und der Westsahara einsetzen, werden nicht nur weiterhin zu Unrecht für ihre legitimen Aktivitäten kriminalisiert, sie erhalten auch unverhältnismäßig lange Haftstrafen und sind während ihrer Inhaftierung grausamer, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung und Folter ausgesetzt.» Bilder dieser beiden Männer und unzähliger anderer finden sich oft in den Büros von Menschenrechtsorganisationen und Anwält*innen, die sich unermüdlich für sie einsetzen. Es sind Menschen wie Alaa und seine Mitstreiter*innen in ähnlichen Kämpfen weit weg in Kolumbien und Indien.
In den letzten Jahren hat der Makhzen versucht, die wichtigste linke Partei Marokkos, den Demokratischen Weg, zu strangulieren. Sie hat Aktivist*innen des Demokratischen Weges, die sich öffentlich organisieren wollen, unterdrückt und diffamiert, und sie hindert die Partei daran, öffentliche Räumlichkeiten zu nutzen, um in diesem Jahr ihren fünften Kongress abzuhalten. Trotz dieser Hindernisse haben die Aktivist*innen des Demokratischen Weges zu Beginn des neuen Jahres zu einem gemeinsamen Kampf der Volkskräfte aufgerufen und die Achtung der Freiheiten und Menschenrechte sowie die Freilassung politischer Gefangener gefordert, darunter auch Mitglieder der Rif-Bewegung, die Hunderttausende von Menschen mobilisiert hat, um soziale Rechte und Gerechtigkeit zu fordern, nachdem 2016 ein Fischverkäufer von einer städtischen Müllpresse getötet worden war. Der Demokratische Weg wendet sich auch gegen den repressiven Makhzen und unterstützt das Selbstbestimmungsrecht des saharauischen Volkes.
Seit 1975 hat der marokkanische Staat die Westsahara annektiert, aber es gibt keine ausreichende rechtliche Grundlage für diese Besetzung. Im August 2020 unterzeichnete die US-Regierung das Abraham-Abkommen, welches beinhaltete, dass im Gegenzug für Waffengeschäfte und der US-amerikanischen Anerkennung der marokkanischen Besetzung der Westsahara Marokko und die Vereinigten Arabischen Emirate Israel (und damit die dauerhafte Besetzung Palästinas) anerkennen würden. Die Polisario-Front (die Befreiungsbewegung des saharauischen Volkes) widersetzte sich diesem Abkommen, während Spannungen an der Grenze zwischen Marokko und Algerien zunahmen. Auch der Demokratische Weg stellte sich mutig gegen das Abkommen, was ihm verstärkte Repressionen durch den Makhzen einbrachte.
Reporter ohne Grenzen stuft Marokko auf ihrem Weltindex für Pressefreiheit 2021 auf Platz 136 von 180 Ländern ein. Einer der Gründe für diese schlechte Bewertung ist die Verletzung der Meinungsfreiheit von marokkanischen Journalist*innen und Schriftsteller*innen wie Omar Radi, Maati Monjib, Hicham Mansouri und Abdel-Samad Ait Ayyash. Fatima al-Afriqi schrieb eindringlich über die Bedrohungen, denen sie ausgesetzt war: «Ich habe die Botschaft verstanden, ihr Wächter mit euren Maschinengewehren hinter den Sandsäcken der Erinnerungen und Träume meines Schädels … Ich habe euch verstanden, die ihr meine Schwächen und möglichen Fehler beobachtet. Ich hisse die weiße Fahne und erkläre meine Niederlage und werde mich vom Schlachtfeld zurückziehen». Sie setzt ihre tapfere Wache fort.
Omar Radi sitzt wie Alaa in seiner Zelle im Oukacha-Gefängnis in Casablanca. Er schickt uns eine Botschaft: «Die Tyrannei ist kein Schicksal; die Freiheit muss errungen werden, auch wenn es lange dauert. Und wenn meine Zeit gekommen ist, den Preis für diese unglückliche neue Generation zu zahlen, die vor dem alten und dem so genannten neuen Regime geboren wurde, dann bin ich bereit, ihn mit allem Mut zu zahlen und werde mit ruhigem, lächelndem Herzen und reinen Gewissens meinem Schicksal entgegensehen».
Omar, Alaa, Fatima, Ahmed und andere politische Gefangene auf der ganzen Welt werden sich nicht ihrem Schicksal fügen. Wir werden uns an ihrer Seite erheben. Wir sind hier. Solange wir am Leben sind, werden wir aufstehen.
Herzlichst,
Vijay