Ein Programm für eine zukünftige Gesellschaft, die wir jetzt gestalten.
Der zweite Newsletter (2022).
Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro des Tricontinental: Institute for Social Research.
Im Oktober 2021 veröffentlichte das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) einen Bericht, der kaum Beachtung fand: den Globalen Index der mehrdimensionalen Armut 2021, mit dem Untertitel Ungleichheiten nach Ethnie, Kaste und Geschlecht aufdecken. Die «multidimensionale Armut» ist eine viel genauere Messung der Armut als die internationale Armutsgrenze von 1,90 Dollar pro Tag. Dabei werden zehn Indikatoren auf drei Achsen untersucht: Gesundheit (Ernährung, Kindersterblichkeit), Bildung (Anzahl Schuljahre, Anwesenheit in der Schule) und Lebensstandard (Brennstoffe zum Kochen, sanitäre Einrichtungen, Trinkwasser, Strom, Wohnraum, Vermögen). Das Team untersuchte die multidimensionale Armut in 109 Ländern und die Lebensbedingungen von 5,9 Milliarden Menschen. Sie fanden heraus, dass 1,3 Milliarden Menschen – jede fünfte Person – in mehrdimensionaler Armut leben. Dies sind die Lebensumstände dieser Menschen:
- Rund 644 Millionen bzw. die Hälfte dieser Menschen sind Kinder unter 18 Jahren.
- Fast 85 Prozent von ihnen leben in Afrika südlich der Sahara und in Südasien.
- Eine Milliarde von ihnen ist festen Kochbrennstoffen (die zu Atemwegserkrankungen führen), unzureichenden sanitären Einrichtungen und minderwertigen Wohnungen ausgesetzt.
- 568 Millionen Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser innerhalb eines 30-minütigen Fußwegs.
- 788 Millionen multidimensional arme Menschen haben mindestens eine unterernährte Person in ihrem Haushalt.
- Nahezu 66 Prozent von ihnen leben in Haushalten, in denen niemand eine mindestens sechsjährige Schulbildung abgeschlossen hat.
- 678 Millionen Menschen haben keinen Zugang zu Elektrizität.
- 550 Millionen Menschen verfügen nicht über sieben der acht in der Studie genannten Güter (Radio, Fernseher, Telefon, Computer, Viehwagen, Fahrrad, Motorrad oder Kühlschrank). Sie besitzen auch kein Auto.
Die absoluten Zahlen des UNDP-Berichts sind durchweg niedriger als die von anderen Forschern ermittelten Zahlen. Zum Beispiel die Zahl der Menschen ohne Zugang zu Elektrizität (678 Millionen). Daten der Weltbank zeigen, dass im Jahr 2019 90 Prozent der Weltbevölkerung Zugang zu Elektrizität hatten, was bedeutet, dass 1,2 Milliarden Menschen keinen Zugang hatten. Eine wichtige Studie aus dem Jahr 2020 zeigt, dass 3,5 Milliarden Menschen keinen «einigermaßen zuverlässigen Zugang» zu Strom haben. Das sind weit mehr als die absoluten Zahlen im UNDP-Bericht, aber unabhängig von den konkreten Zahlen sind die Trendlinien dennoch erschreckend. Wir leben auf einem Planeten mit stark zunehmenden Ungleichheiten.
Zum ersten Mal hat das UNDP die Aufmerksamkeit auf die detaillierteren Aspekte dieser Ungleichheiten gelenkt und die Hierarchien nach Ethnie, race und Kaste beleuchtet. Nichts ist so erbärmlich wie gesellschaftliche Hierarchien, ein Erbe der Vergangenheit, das die Menschenwürde nach wie vor zutiefst verletzt. Bei der Untersuchung von Daten aus 41 Ländern stellte das UNDP fest, dass die multidimensionale Armut diejenigen, die sozial diskriminiert werden, unverhältnismäßig stark trifft. In Indien beispielsweise sind die «Scheduled Castes» und «Scheduled Tribes» («scheduled», weil die Regierung sie als offiziell ausgewiesene Gruppen betrachtet) am stärksten von Armut und Diskriminierung betroffen, was ihre Lage noch verschlimmert. Fünf von sechs Menschen, die mit mehrdimensionaler Armut zu kämpfen haben, gehören zu den «Scheduled Castes and Tribes». Eine Studie aus dem Jahr 2010 belegt, dass jedes Jahr mindestens 63 Millionen Menschen in Indien wegen der Kosten für die Gesundheitsversorgung unter die Armutsgrenze fallen (das sind zwei Menschen pro Sekunde). Während der COVID-19-Pandemie sind diese Zahlen gestiegen, obwohl genaue Zahlen nicht leicht zu erheben sind. Unabhängig davon haben fünf von sechs Menschen, die in mehrdimensionaler Armut leben – viele von ihnen gehören zu den untergeordneten Kasten und Stämmen – keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung und sind daher in diesen Daten nicht einmal enthalten. Sie leben weitgehend außerhalb der formalen Gesundheitssysteme, was für diese Gemeinschaften während der Pandemie katastrophale Folgen hatte.
Letztes Jahr bat der Generalsekretär von ALBA-TCP (Bolivarische Allianz für die Völker unseres Amerikas – Handelsvertrag der Völker), Sacha Llorenti, das Tricontinental: Institute for Social Research und das Instituto Simón Bolivar in Caracas, Venezuela, eine internationale Diskussion zu starten, die auf die umfassenden Krisen unserer Zeit reagiert. Wir brachten sechsundzwanzig Forschungsinstitute aus der ganzen Welt zusammen, deren Arbeit nun in einem Bericht mit dem Titel A Plan to Save the Planet gipfelte. Dieser Plan ist mit einer längeren Einleitung im Dossier Nr. 48 (Januar 2022) abgedruckt.
Wir haben uns zwei Arten von Texten genau angesehen: erstens eine Reihe von Plänen, die von konservativen und liberalen Denkfabriken auf der ganzen Welt erstellt wurden, vom Weltwirtschaftsforum bis zum Rat für integrativen Kapitalismus; zweitens eine Reihe von Forderungen von Gewerkschaften, linken politischen Parteien und sozialen Bewegungen. Letztere haben wir herangezogen, um die Grenzen der ersteren besser zu verstehen. So stellten wir beispielsweise fest, dass die liberalen und konservativen Texte die Tatsache ignorierten, dass die Zentralbanken – vor allem im globalen Norden – während der Pandemie 16 Billionen Dollar aufbrachten, um ein schwächelndes kapitalistisches System zu stützen. Obwohl Geld zur Verfügung steht, das für das Gemeinwohl hätte eingesetzt werden können, wurde es stattdessen größtenteils zur Stützung des Finanzsektors und der Industrie verwendet. Wenn Geld für diese Zwecke zur Verfügung gestellt werden kann, kann es sicherlich auch zur vollständigen Finanzierung eines soliden öffentlichen Gesundheitssystems in jedem Land und für einen fairen Übergang von nicht erneuerbaren fossilen Brennstoffen zu erneuerbaren Energiequellen verwendet werden, zum Beispiel.
Der Plan umfasst zwölf Bereiche, von «Demokratie und Weltordnung» bis zur «digitalen Welt». Um Ihnen einen Eindruck von den Forderungen des Plans zu vermitteln, finden Sie hier die Empfehlungen im Abschnitt über Bildung:
- Entkommodifizierung der Bildung, d. h. Stärkung der öffentlichen Bildung und Verhinderung der Privatisierung von Bildung.
- Förderung der Rolle der Lehrer*innen bei der Leitung von Bildungseinrichtungen.
- Sicherstellen, dass Menschen aus unterprivilegierten Gesellschaftsschichten zu Lehrer*innen ausgebildet werden.
- Überbrückung der Ungleichheiten beim Zugang zu Elektrizität und im Digitalen.
- Aufbau von öffentlich finanzierten und kontrollierten Hochgeschwindigkeits-Breitband-Internetsystemen.
- Sicherstellen, dass alle Schulkinder Zugang zu allen Elementen des Bildungsprozesses haben, einschließlich außerschulischer Aktivitäten.
- Entwicklung von Kanälen, über die Student*innen an den verschiedenen Entscheidungsprozessen in der Hochschulbildung teilnehmen können.
- Bildung zu einer lebenslangen Erfahrung machen, die es Menschen in jeder Lebensphase ermöglicht, in verschiedenen Einrichtungen zu lernen. Dadurch wird der Wert gefördert, dass es bei der Bildung nicht nur um den Aufbau einer Karriere geht, sondern um den Aufbau einer Gesellschaft, die das kontinuierliche Wachstum und die Entwicklung des Geistes und der Gemeinschaft unterstützt.
- Subventionierung von Hochschul- und Berufsausbildungen für Arbeitnehmer*innen aller Altersgruppen in Bereichen, die mit ihrem Beruf zusammenhängen.
- Bildung, einschließlich Hochschulbildung, für alle in den gesprochenen Sprachen zugänglich machen; sicherstellen, dass die Regierungen die Verantwortung für die Bereitstellung von Bildungsmaterialien in den gesprochenen Sprachen ihres Landes durch Übersetzungen und andere Mittel übernehmen.
- Einrichtung von Management-Ausbildungsinstituten, die auf die Bedürfnisse von Genossenschaften in Industrie, Landwirtschaft und im Dienstleistungssektor ausgerichtet sind.
Der Plan zur Rettung des Planeten beruht auf den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen (1945), dem Dokument mit dem weltweit größten Konsens (193 Mitgliedstaaten der UNO haben diesen verbindlichen Vertrag unterzeichnet). Wir hoffen, dass Sie den Plan und das Dossier sorgfältig lesen werden. Sie wurden zur Diskussion und Erörterung erstellt und sind dazu gedacht, dass man mit ihnen argumentiert und sie ausarbeitet. Wenn Sie Vorschläge oder Ideen haben oder uns mitteilen möchten, wie Sie den Plan nutzen konnten, schreiben Sie uns bitte an plan@thetricontinental.org.
Das Selbststudium war seit je her ein Schlüsselinstrument für die Ausweitung des Kampfes der Arbeiterklasse, wie der Einfluss von Zeitungen, Zeitschriften und Literatur aus der Arbeiterklasse auf die erweiterte Vorstellungskraft der Massen zeigt. 1928 fotografierte Tina Modotti mexikanische revolutionäre Landarbeiter*innen bei der Lektüre von El Machete, der Zeitung ihrer kommunistischen Partei. Modotti, eine der brillantesten revolutionären Fotograf*innen, spiegelt das aufrichtige Engagement der mexikanischen Revolutionär*innen, der Linken der Weimarer Republik und der Kämpfer*innen im Spanischen Bürgerkrieg wider. Die Bäuer*innen, die El Machete lesen, und der Bauernorganisator in Indien auf dem Holzschnitt von Chittaprosad, der während der großen Hungersnot in Bengalen 1943 in einer Hütte aus dem Werk des türkischen kommunistischen Dichters Nâzim Hikmet vorliest, deuten auf die Art der Räume hin, in welchen unser Plan diskutiert werden wird – das ist unsere Hoffnung. Wir hoffen, dass er nicht nur als eine Kritik an der Gegenwart genutzt wird, sondern als Programm für eine zukünftige Gesellschaft, die wir in der Gegenwart aufbauen.
Herzlichst,
Vijay