Das höchstmögliche Maß an Gesundheit ist Grundrecht eines jeden Menschen.
Der erste Newsletter (2022).
Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro des Tricontinental: Institute for Social Research.
Zu Beginn des neuen Jahres, fast zwei Jahre nachdem die Weltgesundheitsorganisation (WHO) am 11. März 2020 eine Pandemie ausgerufen hat, liegt die offizielle Zahl der COVID-19-Todesopfer bei knapp 5,5 Millionen Menschen. WHO-Generaldirektor Dr. Tedros Adhanom Ghebreyesus spricht von einem «Tsunami von Fällen» infolge der neuen Varianten. Das Land mit den meisten Todesfällen sind die Vereinigten Staaten, wo die offizielle Zahl derer, die der Erkrankung erlagen, inzwischen bei über 847.000 liegt; Brasilien und Indien folgen mit fast 620.000 bzw. 482.000 Todesfällen. Diese drei Länder wurden von der Krankheit schwer getroffen. Die politische Führungen dieser Länder versäumten es, ausreichende Maßnahmen zur Unterbrechung der Infektionsketten einzuleiten und haben stattdessen ihren Bevölkerungen, die bereits unter einem Mangel an klaren Informationen und unter relativ ausgehöhlten Gesundheitssystemen leideten, unwissenschaftliche Ratschläge gegeben.
Im Februar und März 2020, als das chinesische Zentrum für Seuchenkontrolle seinen Amtskolleg*innen in den Vereinigten Staaten die Nachricht vom Virus bereits übermittelt hatte, gab US-Präsident Donald Trump gegenüber dem Reporter der Washington Post, Bob Woodward, zu: «Ich wollte es immer herunterspielen. Ich spiele es immer noch gerne herunter, weil ich keine Panik auslösen will». Trotz der Warnungen haben es Trump und sein Gesundheitsminister Alex Azar komplett versäumt, sich auf die Ankunft von COVID-19 per Kreuzfahrtschiff und Flugzeug auf amerikanischem Boden vorzubereiten.
Es ist nicht so, dass Joe Biden, Trumps Nachfolger, die Pandemie wesentlich besser im Griff hätte. Als die US-amerikanische Lebensmittel- und Arzneimittelbehörde im April 2021 die Verwendung des Impfstoffs von Johnson & Johnson aussetzte, trug dies zur wachsenden Anti-Impf-Stimmung im Land bei; die Unstimmigkeiten zwischen Bidens Weißem Haus und dem Zentrum für Seuchenkontrolle über die Verwendung von Masken trug zum Chaos im Land bei. Die tiefe politische Feindseligkeit zwischen Trump-Anhänger*innen und Liberalen und die allgemeine Gleichgültigkeit gegenüber Menschen, die von der Hand in den Mund leben und über kein soziales Sicherheitsnetz verfügen, haben die kulturellen Gräben in den Vereinigten Staaten weiter vertieft.
Die Fahrlässigkeit der US-amerikanischen Staatspolitik wurde von ihren engen Verbündeten Brasilien und Indien nachgeahmt. In Brasilien verhöhnte Präsident Jair Bolsonaro den Virus, weigerte sich, die einfachen Richtlinien der WHO (Maskenpflicht, Rückverfolgung von Kontakten und später Impfung) zu unterstützen, und verfolgte eine völkermörderische Politik, indem er Gelder für die Bereitstellung von sauberem Wasser in Teilen des Landes – vor allem im Amazonasgebiet – verweigerte, was für die Verhinderung der Ausbreitung der Krankheit unerlässlich ist. Der Begriff «Völkermord» ist nicht unbedacht gewählt. Er wurde zweimal vom brasilianischen Obersten Richter Gilmar Mendes ins Spiel gebracht, einmal im Mai 2020 und noch einmal im Juli 2020; im ersten Fall beschuldigte Richter Mendes Bolsonaro, «eine völkermörderische Politik in der Verwaltung der Gesundheitsversorgung» zu betreiben.
In Indien missachtete Premierminister Narendra Modi die Ratschläge der WHO, veranlasste einen schlecht durchdachten Lockdown und unterließ es dann, die medizinischen Einrichtungen – insbesondere die Mitarbeiter*innen des öffentlichen Gesundheitswesens (ASHA) – bei der Bereitstellung der medizinischen Grundversorgung (einschließlich Sauerstoff) angemessen zu unterstützen. Stattdessen ermutigte er die Öffentlichkeit, auf Töpfe zu schlagen, und betete, dass dies das Virus verwirren würde, was zur Verbreitung einer unwissenschaftliche Haltung gegenüber der Krankheit führte. Und Modis Regierung erlaubte weiterhin Massenversammlungen während des Wahlkampfs und genehmigte religiöse Mega-Festivals, die allesamt zu Super-Spreader-Events wurden.
Studien über Staatsoberhäupter wie Bolsonaro und Modi zeigen, dass es ihnen nicht nur nicht gelungen ist, die Krise auf wissenschaftliche Weise zu bewältigen, sondern dass sie «kulturelle Grabenkämpfe geschürt und die Krise als Gelegenheit genutzt haben, ihre Macht auszuweiten und/oder eine intolerante Haltung gegenüber Regierungsgegnern einzunehmen».
Länder wie die Vereinigten Staaten und Indien – und in geringerem Maße auch Brasilien – wurden hart getroffen, weil ihre öffentliche Gesundheitsinfrastruktur marode ist und ihre privaten Gesundheitssysteme einfach nicht in der Lage sind, eine Krise dieses Ausmaßes zu bewältigen. Während der jüngsten Ausbreitung der Omicron-Variante in den Vereinigten Staaten versuchte das Zentrum für Seuchenkontrolle, zur Impfung zu ermutigen, indem man sagte, dass der Impfstoff zwar kostenlos sei, «Krankenhausaufenthalte aber teuer werden können». Bonnie Castillo, Vorsitzende von National Nurses United, antwortete: «Stellen Sie sich eine Dystopie vor, in der die Strategie der öffentlichen Gesundheit darin besteht, die Menschen mit dem Gesundheitssystem selbst zu bedrohen. Oh, Moment, das müssen wir uns nicht vorstellen …».
Im Jahr 2009 sagte die damalige WHO-Generaldirektorin Dr. Margaret Chan: «Nutzungsgebühren für die Gesundheitsversorgung wurden eingeführt, um Kosten zu decken und eine übermäßige Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten und Pflegeleistungen zu verhindern. Das ist nicht eingetreten. Stattdessen wurden die Armen durch Nutzungsgebühren bestraft». Nutzungsgebühren oder Zuzahlungen und die Bezahlung einer privaten Gesundheitsversorgung, wenn es keine öffentliche Gesundheitsversorgung gibt, sind nach wie vor eine Möglichkeit, die Armen zu «bestrafen». Indien – derzeit das Land mit der dritthöchsten COVID-19-Todesrate – hat die weltweit höchsten privaten Ausgaben für medizinische Versorgung.
Die scharfen Worte der Leiterin der Pflegefachkräftegewerkschaft in den Vereinigten Staaten ähneln denen von Ärzt*innen und Pflegepersonal in der ganzen Welt. Letztes Jahr sagte mir Jhuliana Rodrigues, eine Pflegerin im Krankenhaus São Vicente in Jundiaí, Brasilien, dass sie «mit Angst arbeiten», und berichtete von katastrophalen Bedingungen, von minimaler Ausstattung und langen Arbeitszeiten. Das Gesundheitspersonal «macht seine Arbeit mit Liebe, Hingabe und Fürsorge für die Menschen», sagte sie mir. Trotz allem Gerede über «unverzichtbare Arbeitskräfte» haben sich die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten im Gesundheitswesen kaum verändert, weshalb es weltweit zu einer Welle von Streiks kam – wie etwa dem jüngsten militanten Streik der Ärzt*innen in Delhi, Indien.
Der falsche Umgang mit der COVID-Katastrophe in Ländern wie den Vereinigten Staaten, Brasilien und Indien stellt eine schwerwiegende Verletzung der Menschenrechtsverträge dar, die von all diesen Ländern unterzeichnet worden sind. Jedes dieser Länder ist Mitglied der WHO, in deren Verfassung von 1946 das «höchstmögliche Maß an Gesundheit [als] eines der Grundrechte jedes Menschen» verankert ist. Zwei Jahre später heißt es in Artikel 25 der Internationalen Erklärung der Menschenrechte (1948): «Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen, sowie das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität, Verwitwung, Alter oder anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände». Die Formulierung ist veraltet – «er selbst», «seine Familie», «seine» –, aber die Aussage ist klar. Auch wenn es sich bei der Erklärung um einen unverbindlichen Vertrag handelt, so setzt sie doch einen wichtigen Standard, der von den großen Weltmächten routinemäßig missachtet wird.
1978 in Alma-Ata (UdSSR) verpflichtete sich jedes dieser Länder, die Infrastruktur des öffentlichen Gesundheitswesens zu verbessern, was sie nicht nur nicht taten, sondern systematisch untergruben, indem sie die Gesundheitsversorgung weitgehend privatisierten. Die Aushöhlung der öffentlichen Gesundheitssysteme ist einer der Gründe, warum diese kapitalistischen Staaten die Krise nicht in den Griff bekommen haben – ein krasser Gegensatz zu den Staaten Kuba, Kerala und Venezuela, die mit einem Bruchteil der Mittel wesentlich erfolgreicher dabei waren, die Infektionskette zu unterbrechen.
Schließlich bestätigten die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen vor dem UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte im Jahr 2000 ein Dokument, in dem bekräftigt wird, dass «Gesundheit ein grundlegendes Menschenrecht ist, das für die Ausübung anderer Menschenrechte unerlässlich ist. Jeder Mensch hat das Recht auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit, das ihm ein Leben in Würde ermöglicht».
In vielen der größten Länder der Welt hat sich eine toxische Kultur entwickelt, in der das Wohlergehen der einfachen Menschen routinemäßig missachtet wird, eine Missachtung, die gegen internationale Verträge verstößt. Begriffe wie «Demokratie» und «Menschenrechte» müssen von Grund auf neu überdacht werden; sie werden durch ihre einengende Verwendung entwertet.
Unsere Kolleg*innen von New Frame haben das neue Jahr mit einem starken Leitartikel begonnen, in dem sie zum Widerstand gegen diese bösartigen Regierungen aufrufen und auf die Notwendigkeit eines neuen Projekts hinweisen, das die Hoffnung wiederherstellt. Zum zweiten Punkt schreiben sie: «Daran ist nichts Utopisches. Es gibt zahlreiche Beispiele für rasche soziale Fortschritte unter fortschrittlichen Regierungen – wenngleich alle ihre Grenzen und Widersprüche haben. Aber es erfordert immer die Organisation und Mobilisierung des Volkes, um ein politisches Instrument für den Wandel zu schaffen, um von unten zu erneuern und zu disziplinieren und gegen die einheimischen Eliten und den Imperialismus zu verteidigen, vor allem gegen den verdeckten oder offenen Revanchismus der amerikanischen Außenpolitik».
Herzlichst,
Vijay