
Suchen wir nicht alle nach dem Morgen:
Der fünfte Newsletter (2021).

Liebe Freund*innen,
Grüsse vom Schreibtisch des Tricontinental: Institute for Social Research.
Im Jahr 2019 haben 613 Millionen Inder ihre Vertreter*innen für das indische Parlament (Lok Sabha) gewählt. Für den Wahlkampf gaben die politischen Parteien insgesamt 60.000 crore Rupien (ca. 8 Mrd. US-Dollar) aus, 45% davon von der Regierungspartei Bharatiya Janata Party (BJP); die BJP gewann 37% der Stimmen, was 303 von 545 Lok Sabha-Sitzen entspricht. Ein Jahr später wurden für die Präsidentschafts- und Kongresswahlen in den USA enorme 14 Milliarden US-Dollar ausgegeben, wobei die Siegerpartei der Demokraten die Ausgaben dominierte. Das sind Unsummen an Geld, deren Einfluss auf den demokratischen Prozess mittlerweile unverkennbar ist. Ist es möglich, von «Demokratie» zu sprechen, ohne die Erosion des demokratischen Geistes durch solche Geldlawine zu benennen?
Geld überflutet das System, nagt an den Loyalitäten der Politiker, korrumpiert die Institutionen der Zivilgesellschaft und prägt die Narrative der Medien. Dass die herrschenden Klassen in unserer Welt die wichtigsten Kommunikationskanäle besitzen und dass diese Kanäle die Art und Weise beeinflussen, wie Menschen die Welt um uns herum verstehen, ist von großer Bedeutung. Obwohl die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen festhält, dass «jeder Mensch das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung hat» (Artikel 19), ist es eine Tatsache, dass die Konzentration der Medien in den Händen einiger weniger Konzerne zur Folge hat, dass die Freiheit zur «Verbreitung von Informationen und Ideen durch alle Medien» eingeschränkt wird. Aus diesem Grund verfolgt die Organisation Reporter ohne Grenzen mit ihrem Media Ownership Monitor fortlaufend die Konsolidierung der Medien in den Händen von Konzernen, die ihrerseits eine politische Agenda innerhalb bestehender Regierungssysteme verfolgen.

Aijaz Ahmad, Senior Fellow am Tricontinental: Institute for Social Research, argumentiert, dass es rechtsextremen politischen Projekten möglich ist, ihre Agenda mittels demokratischer Institutionen voranzutreiben, weil die politischen Strukturen in diesen Ländern – von den Vereinigten Staaten bis Indien – eine erhebliche Erosion ihres demokratischen Wesens erfahren haben. Wie Ahmad erklärt, stellt die extreme Rechte in Ländern wie den Vereinigten Staaten und Indien nicht die verfassungsmäßige, liberale demokratische Form in Frage, sondern zersetzt die formalen Institutionen, indem sie die Gesellschaft «in allen Bereichen der Kultur, Religion und Zivilisation» umkrempelt.
In Lateinamerika hat die extreme Rechte jede Waffe eingesetzt, um ihre Gegner zu delegitimieren, einschließlich der böswilligen Instrumentalisierung einwandfreier Gesetze gegen Korruption, um gegen führende Politiker*innen der Linken vorzugehen. Diese Strategie, die als «Lawfare» bezeichnet wird, setzt die Gesetzgebung ein, um – oft ohne Beweise – demokratisch gewählte führende Persönlichkeiten der Linken zu entmachten oder sie an einer Kandidatur zu hindern. Lawfare führte 2009 zur Absetzung des honduranischen Präsidenten José Manuel Zelaya, 2012 zu jener des paraguayischen Präsidenten Fernando Lugo und 2016 zu jener der brasilianischen Präsidentin Dilma Rousseff, die allesamt Opfer eines juristischen Staatsstreichs wurden. Brasiliens ehemaligem Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva wurde das Recht verweigert, 2018 für die Präsidentschaft zu kandidieren, und zwar aufgrund eines grundlosen Verfahrens, während sämtliche Umfragen ihm den Sieg voraussagten. Argentiniens ehemalige Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner sah sich ab 2016 mit einer Reihe von Gerichtsprozessen konfrontiert, die sie alle daran hinderten, 2019 erneut zu kandidieren (sie ist jetzt die Vizepräsidentin, was ein Beweis für ihre Beliebtheit im Land ist).

In Ecuador nutzte die Oligarchie die Techniken der guerra jurídica («juristischer Krieg»), um die gesamte Linke zu delegitimieren, insbesondere den ehemaligen Präsidenten Rafael Correa (2007–2017). Correa wurde der Bestechung angeklagt – wobei der bizarre Begriff der «psychischen Beeinflussung» (influjo psíquico) im Mittelpunkt des Verfahrens stand. Er wurde zu einer achtjährigen Haftstrafe verurteilt, wodurch er nicht mehr für ein Amt in Ecuador kandidieren konnte.
Warum war Correa sowohl der herrschenden Klasse Ecuadors als auch den Vereinigten Staaten ein Dorn im Auge? Die von Correa angeführte Bürger*innenrevolution führte 2008 eine progressive Verfassung ein, die auf dem Grundsatz des «guten Lebens» (buen vivir auf Spanisch, sumak kawsay auf Quechua) beruhte. Staatliche Investitionen zur Stärkung sozialer und wirtschaftlicher Rechte gingen einher mit einem harten Vorgehen gegen die Korruption von Unternehmen (einschließlich multinationaler Konzerne). Statt die Einkünfte aus dem Ölgeschäft auf ausländischen Banken zu parken, wurden sie für Investitionen in Bildung, Gesundheitsfürsorge, Straßen und andere grundlegende Infrastrukturen verwendet. Von den 17 Millionen Einwohnern Ecuadors schafften es in den Correa-Jahren fast 2 Millionen Menschen, aus der Armut herauszukommen.
Correas Regierung war für multinationale Firmen – wie etwa der US-amerikanischen Ölkonzern Chevron – und für die ecuadorianische Oligarchie eine Zumutung. Chevrons bedrohliche Klage auf Entschädigung gegen Ecuador, die noch vor Correas Amtsantritt eingereicht wurde, wurde von Correas Regierung dennoch heftig bekämpft. Mano Negra, die «Schmutzige Hand»-Kampagne übte enormen internationalen Druck auf Chevron aus, das eng mit der US-Botschaft in Quito und der US-Regierung zusammenarbeitete, um Correa und seine Kampagne gegen den Ölriesen zu untergraben.
Sie wollten nicht nur Correa raus, sondern auch alle anderen Linken – sogenannte Correistas – raus. Lenín Moreno, der Correa einst nahe stand, übernahm 2017 die Präsidentschaft, wechselte die Seiten, trug maßgeblich zur Zersplitterung der ecuadorianischen Linken bei und lieferte Ecuador erneut an seine Eliten und an die USA aus. Morenos Regierung weidete den öffentlichen Sektor aus, indem sie das Bildungs- und Gesundheitswesen entfinanzierte, Arbeits- und Wohnrechte aufhob und versuchte, Ecuadors Raffinerie zu verkaufen sowie Teile des Finanzsystems zu deregulieren. Der Einbruch der Ölpreise, der zu Kürzungen der Ölsubventionen führte, ein saftiger Kredit des Internationalen Währungsfonds auf Kosten von Sparmaßnahmen und das Missmanagement der Pandemie erschütterten Morenos Legitimität. Eine Folge dieser Maßnahmen war die katastrophale Reaktion Ecuadors auf die Pandemie, zu der auch der Vorwurf der absichtlichen Untererfassung von bis zu 20.000 COVID-19-Toten gehört.

Um sich bei den USA einzuschmeicheln, warf Moreno den WikiLeaks-Gründer Julian Assange aus der Londoner Botschaft Ecuadors, verhaftete den Programmierer und Datenschutzaktivisten Ola Bini auf der Grundlage eines erfundenen Vorwurfs und lancierte einen Frontalangriff gegen die Correistas. Die politische Bewegung der Correistas wurde zerschlagen, ihre Führungspersonen verhaftet und jeder Versuch, sich für die Wahlen neu zu formieren, unterbunden. Ein Beispiel dafür ist die Plattform Fuerza Compromiso Social («Kraft des sozialen Kompromisses»), mit der die Correistas zu den Kommunalwahlen 2019 antraten; diese Plattform wurde dann 2020 verboten. Im Februar 2018 wurde ein Referendum durchgepeitscht, das es der Regierung ermöglichte, die demokratischen Strukturen des Nationalen Wahlrats (CNE), des Verfassungsgerichts, des Obersten Gerichtshofs, des Justizrats, des Generalstaatsanwaltsbüro, der Generalrechnungsprüfungsstelle und anderer zu zerstören. Die Demokratie wurde ausgehöhlt.
Einen Monat vor der Präsidentschaftswahl am 7. Februar 2021 schien es klar, dass sich bei einer fairen Wahl der Kandidat der Linken, Andrés Arauz Galarza, durchsetzen würde. Etliche Meinungsforscher*innen gingen davon aus, dass Arauz in der ersten Runde mit mehr als 40% der Stimmen gewinnen würde. Arauz (35 Jahre) ist ein attraktiver Kandidat, dem nicht der geringste Hauch von Korruption oder Inkompetenz anhaftet, da er zehn Jahre lang in der Zentralbank und als Minister in den letzten beiden turbulenten Jahren der Regierung Correa tätig war. Als Correa aus dem Amt schied, ging Arauz nach Mexiko, um an der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko (UNAM) zu promovieren. Die Oligarchie hat jedes Mittel genutzt, um seinen Sieg zu vereiteln.

Am 14. Januar gewährte die US International Development Finance Corporation (DFC) Ecuador einen Kredit in Höhe von 2,8 Milliarden Dollar, der dazu verwendet werden sollte, die Schulden Ecuadors bei China zu begleichen und sicherzustellen, dass Ecuador sich verpflichtet, die Handelsbeziehungen zu China abzubrechen. In dem Wissen, dass Arauz gewinnen könnte, beschlossen die USA und die Oligarchie Ecuadors, das Andenland an eine Vereinbarung zu binden, die jede progressive Regierung ersticken würde. Die 2018 gegründete DFC entwickelte ein Projekt namens América Crece oder «Wachstum in den Amerikas», dessen gesamtes politisches Gerüst darin besteht, chinesische Unternehmen aus der amerikanischen Einflusssphäre zu verdrängen. Quito hat sich inzwischen dem «Clean Network» angeschlossen, einem Projekt des US-Außenministeriums, das Länder dazu zwingen soll, Telekommunikationsnetze ohne Beteiligung eines chinesischen Telekommunikationsanbieters aufzubauen. Dies gilt insbesondere für die Hochgeschwindigkeitsnetze der fünften Generation (5G). Ecuador trat dem Clean Network im November 2020 bei, was ihm den Weg für den DFC-Kredit ebnete.
Correa bezog 5 Milliarden US-Dollar von chinesischen Banken, um Ecuadors Infrastruktur zu verbessern (insbesondere für den Bau von Staudämmen); Ecuadors Auslandsverschuldung beträgt insgesamt 52 Milliarden US-Dollar. Moreno und die Vereinigten Staaten stellen die chinesischen Gelder als «Schuldenfalle» dar, obwohl es keine Beweise dafür gibt, dass die chinesischen Banken nicht stets entgegenkommend waren. In den letzten sechs Monaten des Jahres 2020 waren chinesische Banken bereit, die Rückzahlung von Krediten bis 2022 aufzuschieben (dies beinhaltet eine Verzögerung der Rückzahlung des Darlehens an die Export-Import Bank of China in Höhe von 474 Millionen US-Dollar und das Darlehen an die China Development Bank in Höhe von 417 Millionen US-Dollar). Das ecuadorianische Finanzministerium sagt, der vorläufige Plan sei, die Rückzahlung im März 2022 zu beginnen und bis 2029 abzuschließen. Moreno nutzte Twitter, um diese beiden Verzögerungen zu verkünden. Es gab keine aggressiven Maßnahmen, weder von den zwei genannten Banken noch von einem anderen chinesischen Finanzunternehmen.
Im Wesentlichen versucht der DFC-Kredit, eine Arauz-Präsidentschaft zu sabotieren. Dieser von den USA auferlegte Zwist mit China in Lateinamerika ist Teil eines umfassenderen Angriffs. Am 30. Januar veranstaltete Tricontinental: Institute for Social Research zusammen mit dem Instituto Simón Bolívar, ALBA Social Movimientos und der Plattform No Cold War ein Seminar, um über das lateinamerikanische Schlachtfeld in diesem hybriden Krieg zu diskutieren.
Zu den Referent*innen gehörten Alicia Castro (Argentinien), Eduardo Regaldo Florido (Kuba), João Pedro Stedile (Brasilien), Ricardo Menéndez (Venezuela), Monica Bruckmann (Peru/Brasilien), Botschafter Li Baorong (China) und Fernando Haddad (Brasilien).

Trotz der Aushöhlung der Demokratie stellen Wahlen eine Front im politischen Wettbewerb dar, und in diesem Wettbewerb kämpft die Linke darum, einen demokratischen Geist heraufzubeschwören. Vielleicht ist die Poesie am ehesten geeignet, die Beschaffenheit dieses Konflikts zu artikulieren. Aus Ecuadors reicher Tradition des emanzipatorischen Denkens stammt der Schriftsteller und Kommunist Jorge Enrique Adoum. Hier ein Ausschnitt aus seinem kraftvollen Gedicht Fugaz retorno, «Flüchtige Rückkehr»:
Und wir rannen, wie zwei Geflüchtete, bis
zu den harten Küsten, wo sich die Sterne
befreiten. Die Fischer sprachen von
einer Siegesreihe in den benachbarten Provinzen.
Und ein Morgenschaum machte uns die Füsse nass,
voller Wurzeln, den unseren und die der Welt.
«Wann ist Glück?», fragt der Dichter. Morgen. Suchen wir nicht alle nach dem Morgen?
Herzlichst,
Vijay

Ich bin Tricontinental:
Srabani Chakraborty
wissenschaftliche Mitarbeiterin im Indien-Büro
Ich arbeite hauptsächlich an der Entwicklung von pädagogischen Materialien für politische Aktivist*innen, insbesondere zum historischen Materialismus. Außerdem plane ich, mich mit dem Thema der sozialen Reproduktion und der Rolle der organisierten Frauenbewegungen und Gewerkschaften bei der Organisierung von Hausangestellten und Systemarbeiter*innen in Südasien zu beschäftigen. Ich interessiere mich auch für Migrationsmuster im östlichen Teil Indiens und bin Teil eines laufenden Projekts, das sich mit der Geschichte kommunistischer Bewegungen in Nordindien beschäftigt.
Aus dem Englischen übersetzt von Claire Louise Blaser.