Es waren die Arbeiter, die uns die Demokratie brachten, und es werden die Arbeiter sein, die eine noch tiefere Demokratie erkämpfen. 

Der vierte Newsletter (2023).

Striking Frame Group Arbei­ter tref­fen sich zu einem Bericht über die Verhand­lun­gen mit der Geschäfts­lei­tung in Bolton Hall im Jahr 1973. Credit: David Hemson Coll­ec­tion, Biblio­the­ken der Univer­si­tät Kapstadt

Liebe Freund*innen,

 

Grüße aus dem Büro von Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Research.

 

Die Demo­kra­tie hat einen traum­haf­ten Charak­ter. Sie schwappt in die Welt, getra­gen von dem immensen Wunsch der Menschen, die Schran­ken der Unwür­dig­keit und des sozia­len Leids zu über­win­den. Wenn sie mit Hunger oder dem Tod ihrer Kinder konfron­tiert wurden, haben frühere Gemein­schaf­ten viel­leicht reflex­ar­tig die Natur oder das Gött­li­che verant­wort­lich gemacht, und in der Tat sind diese Erklä­run­gen auch heute noch aktu­ell. Aber die Fähig­keit der Menschen, durch soziale Produk­tion massive Über­schüsse zu erzeu­gen, und die Grau­sam­keit der kapi­ta­lis­ti­schen Klasse, der großen Mehr­heit der Mensch­heit den Zugang zu diesen Über­schüs­sen zu verwei­gern, bringt neue Ideen und neue Frus­tra­tio­nen hervor. Diese Frus­tra­tion, die durch das Bewusst­sein des Über­flus­ses inmit­ten einer Reali­tät der Entbeh­rung ausge­löst wird, ist die Quelle vieler Bewe­gun­gen für Demokratie.

 

Gewohn­hei­ten des kolo­nia­len Denkens verlei­ten viele zu der Annahme, dass die Demo­kra­tie ihren Ursprung in Europa hat, entwe­der im anti­ken Grie­chen­land (von wo das Wort “Demo­kra­tie” stammt, das sich aus demos, “das Volk”, und kratos, “Herr­schaft”, zusam­men­setzt) oder durch die Entste­hung einer Rechts­tra­di­tion, von der engli­schen Peti­tion of Right im Jahr 1628 bis zur fran­zö­si­schen Erklä­rung der Menschen- und Bürger­rechte im Jahr 1789. Dies ist jedoch zum Teil eine rück­bli­ckende Fanta­sie des kolo­nia­len Euro­pas, das sich das antike Grie­chen­land aneig­nete, seine engen Verbin­dun­gen zu Nord­afrika und dem Nahen Osten igno­rierte und seine Macht nutzte, um große Teile der Welt in eine intel­lek­tu­elle Unter­le­gen­heit zu stür­zen. Auf diese Weise hat das kolo­niale Europa diese wich­ti­gen Beiträge zur Geschichte des demo­kra­ti­schen Wandels verleug­net. Die oft in Verges­sen­heit gera­te­nen Kämpfe der Menschen um die Durch­set­zung ihrer grund­le­gen­den Würde gegen menschen­ver­ach­tende Hier­ar­chien sind ebenso Urhe­ber der Demo­kra­tie wie dieje­ni­gen, die ihre Bestre­bun­gen in schrift­li­chen Texten fest­ge­hal­ten haben, die auch in unse­rer Zeit noch gefei­ert werden.

Coro­na­tion Ziegel­ar­bei­ter marschie­ren entlang der North Coast Road in Durban, ange­führt von einem Arbei­ter, der eine rote Fahne schwenkt. Credit: David Hemson Coll­ec­tion, Biblio­the­ken der Univer­si­tät Kapstadt

Im Laufe der zwei­ten Hälfte des 20. Jahr­hun­derts entwi­ckelte sich eine Reihe von Kämp­fen gegen dikta­to­ri­sche Regime in der Drit­ten Welt, die von anti­kom­mu­nis­ti­schen Olig­ar­chien und ihren Verbün­de­ten im Westen errich­tet worden waren. Diese Regime entstan­den durch Putsche (z. B. in Brasi­lien, auf den Phil­ip­pi­nen und in der Türkei) und erhiel­ten den Spiel­raum zur Aufrecht­erhal­tung recht­li­cher Hier­ar­chien (z. B. in Südafrika). Die großen Massen­de­mons­tra­tio­nen, die den Kern dieser Kämpfe bilde­ten, wurden durch eine Reihe von poli­ti­schen Kräf­ten, einschließ­lich der Gewerk­schaf­ten, aufge­baut — eine Seite der Geschichte, die oft igno­riert wird. Die wach­sende Gewerk­schafts­be­we­gung in der Türkei war in der Tat einer der Gründe für die Mili­tär­put­sche von 1971 und 1980. Beide Mili­tär­re­gie­run­gen verbo­ten Gewerk­schaf­ten und Streiks, da ihr Macht­er­halt durch die Kämpfe der Arbei­ter­klasse gefähr­det war, insbe­son­dere durch eine Reihe von Streiks in ganz Anato­lien (einschließ­lich eines zwei­tä­gi­gen Streiks, an dem 100.000 Arbei­ter teil­nah­men), die von Gewerk­schaf­ten entwi­ckelt wurden, die mit dem Bund progres­si­ver Gewerk­schaf­ten (DISK) verbun­den waren. Der im Februar 1967 gegrün­dete Gewerk­schafts­bund war mili­tan­ter als der bestehende Türk İş, der zu einem Kolla­bo­ra­teur des Kapi­tals gewor­den war. Die Mili­tärs gingen nicht nur gegen sozia­lis­ti­sche Regie­run­gen vor, die versuch­ten, ihre Souve­rä­ni­tät auszu­üben und die Würde ihrer Völker zu verbes­sern (wie 1961 im Kongo, 1964 in Brasi­lien, 1965 in Indo­ne­sien, 1966 in Ghana und 1973 in Chile), sondern sie verlie­ßen auch die Kaser­nen — mit grünem Licht aus Washing­ton -, um den Zyklus der Streiks und Arbei­ter­pro­teste zu unterdrücken.

 

Sobald sie an der Macht waren, verfolg­ten diese erbärm­li­chen Regime in ihren khaki­far­be­nen Unifor­men und feins­ten Seiden­an­zü­gen eine Spar­po­li­tik und gingen gegen jede Bewe­gung der Arbei­ter­klasse und der Bauern­schaft vor. Aber sie konn­ten den mensch­li­chen Geist nicht brechen. In vielen Teilen der Welt (wie in Brasi­lien, den Phil­ip­pi­nen und Südafrika) waren es die Gewerk­schaf­ten, die den ersten Schuss gegen die Barba­rei abfeu­er­ten. Der Schrei auf den Phil­ip­pi­nen “Tama Na! Sobra Na! Welga Na!” (“Wir haben genug! Die Dinge sind zu weit gegan­gen! Es ist Zeit zu strei­ken!”) ging von den Arbei­tern der Bren­ne­rei La Tondeña im Jahr 1975 über zu Protes­ten auf den Stra­ßen gegen die Dikta­tur von Ferdi­nand Marcos und gipfelte schließ­lich in der People Power Revo­lu­tion von 1986. In Brasi­lien legten Indus­trie­ar­bei­ter das Land durch Aktio­nen in Santo André, São Bernardo do Campo und São Caet­ano do Sul (Indus­trie­städte im Groß­raum São Paulo) von 1978 bis 1981 lahm, ange­führt von Luiz Inácio Lula da Silva (heute Präsi­dent Brasi­li­ens). Diese Aktio­nen inspi­rier­ten die Arbei­ter und Bauern des Landes und stärk­ten ihr Vertrauen in den Wider­stand gegen die Mili­tär­junta, die darauf­hin 1985 zusammenbrach.

Eine Gruppe von strei­ken­den Textil­ar­bei­tern fordert im Februar 1973 in der Conso­li­da­ted Textile Mill einen Zuschlag von R5 pro Tag.

Vor fünf­zig Jahren, im Januar 1973, streik­ten die Arbei­ter in Durban, Südafrika, für eine Lohn­er­hö­hung, aber auch für ihre Würde. Sie wach­ten am 9. Januar um 3 Uhr morgens auf und marschier­ten zu einem Fußball­sta­dion, wo sie “Ufil’ umuntu, ufile usadikiza, wamt­hint’ esweni, esweni usadikiza” skan­dier­ten (“Ein Mensch ist tot, aber sein Geist lebt; wenn man in die Iris seines Auges sticht, wird er noch leben­dig”). Diese Arbei­ter waren Vorrei­ter im Kampf gegen fest­ge­fah­rene Formen der Herr­schaft, die nicht nur sie selbst ausbeu­te­ten, sondern auch das gesamte Volk unter­drück­ten. Sie setz­ten sich gegen die harten Arbeits­be­din­gun­gen zur Wehr und erin­ner­ten die Apart­heid­re­gie­rung Südafri­kas daran, dass sie sich nicht eher wieder setzen würden, bis die Klas­sen- und Farb­gren­zen über­wun­den seien. Die Streiks leite­ten eine neue Peri­ode städ­ti­scher Mili­tanz ein, die sich bald von den Fabrik­hal­len in die Gesell­schaft ausbrei­tete. Ein Jahr später stellte Sam Mhlongo, ein Arzt, der als Jugend­li­cher auf Robben Island inhaf­tiert gewe­sen war, fest, dass “dieser Streik, obwohl er beigelegt wurde, eine zündende Wirkung hatte”. Der Staf­fel­stab wurde 1976 an die Kinder von Soweto weitergegeben. 

 

Von Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch und dem Chris Hani Insti­tute kommt ein denk­wür­di­ger Text, The 1973 Durban Strikes: Buil­ding Popu­lar Demo­cra­tic Power in South Africa (Dossier Nr. 60, Januar 2023). Er ist in zwei­er­lei Hinsicht denk­wür­dig: Er erweckt eine fast verlo­rene Geschichte der Rolle der Arbei­ter­klasse im Kampf gegen die Apart­heid wieder zum Leben, insbe­son­dere der schwar­zen Arbei­ter­klasse, deren Kampf eine “zündende” Wirkung auf die Gesell­schaft hatte. Das Dossier, das von unse­ren Kolle­gen in Johan­nes­burg sehr schön geschrie­ben wurde, macht es schwer, diese Arbei­ter zu verges­sen, und noch schwe­rer, zu verges­sen, dass die Arbei­ter­klasse — die in Südafrika immer noch so stark an den Rand gedrängt wird — Respekt und einen größe­ren Anteil am gesell­schaft­li­chen Reich­tum des Landes verdient. Sie haben der Apart­heid das Genick gebro­chen, aber sie haben nicht von ihren eige­nen Opfern profitiert.

Das Chris-Hani-Insti­tut wurde 2003 von der Kommu­nis­ti­schen Partei Südafri­kas und dem Kongress der südafri­ka­ni­schen Gewerk­schaf­ten gegrün­det. Chris Hani (1942–1993) war einer der großen Frei­heits­kämp­fer Südafri­kas, ein Kommu­nist, der einen noch größe­ren Einfluss gehabt hätte, wenn er nicht am Ende der Apart­heid ermor­det worden wäre. Wir danken Dr. Sithem­biso Bhengu, dem Direk­tor des Chris Hani Insti­tute, für diese Zusam­men­ar­beit und freuen uns auf die vor uns liegende Arbeit.

 

Bei Redak­ti­ons­schluss dieses Dossiers erfuh­ren wir, dass unser Freund Thulani Maseko (1970–2023), Vorsit­zen­der des Multi-Stake­hol­ders Forum in Swasi­land, am 21. Januar vor den Augen seiner Fami­lie erschos­sen wurde. Er war einer der führen­den Köpfe im Kampf für die Demo­kra­tie in seinem Land, wo die Arbei­ter an vorders­ter Front für die Abschaf­fung der Monar­chie kämpfen.

Als ich unser jüngs­tes Dossier, die Durban-Streiks von 1973, noch einmal las, um mich auf diesen News­let­ter vorzu­be­rei­ten, hörte ich Hugh Mase­kelas “Stimela” (“Coal Train”), das Lied von 1974 über Wander­ar­bei­ter, die mit dem Kohle­zug fahren, um “tief, tief, tief unten im Bauch der Erde” zu arbei­ten und Reich­tum für das Apart­heid­ka­pi­tal zu schaf­fen. Mit dem Klang von Mase­kelas Zugpfeife im Ohr dachte ich an die Indus­trie­ar­bei­ter von Durban und erin­nerte mich an das lange Gedicht Third World Express von Mongane Wally Serote, eine Hommage an die Arbei­ter des südli­chen Afri­kas und ihre Kämpfe für eine humane Gesellschaft.

 

- Es ist dieser Wind

es ist diese Stimme, die summt

sie flüs­tert und pfeift in den Drähten

Meilen über Meilen über Meilen

auf den Dräh­ten im Wind

im Gleis der U‑Bahn

in der rollen­den Straße

im nicht stil­len Busch

es ist die Stimme des Lärms

hier kommt sie

der Dritte-Welt-Express

sie müssen sagen, es geht wieder los.

 

Es geht wieder los”, schrieb Serote, als wolle er sagen, dass neue Wider­sprü­che neue Momente des Kamp­fes hervor­brin­gen. Das Ende einer erdrü­cken­den Ordnung — der Apart­heid — been­dete nicht den Klas­sen­kampf, der sich nur verschärft hat, während Südafrika durch eine Krise nach der ande­ren getrie­ben wurde. Es waren die Arbei­ter, die uns diese Demo­kra­tie gebracht haben, und es werden die Arbei­ter sein, die dafür kämp­fen werden, eine noch tiefere Demo­kra­tie zu schaf­fen. Da sind wir wieder.

 

Herz­lichst, 

 

Vijay

Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.