Noch ist es dunkel, aber ich singe, weil der Tag kommt.
Der neunundzwanzigste Newsletter (2022)
Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro von Tricontinental: Institute for Social Research.
Im kalten brasilianischen Winter 2019 besuchten Renata Porto Bugni (stellvertretende Direktorin von Tricontinental: Institute for Social Research), André Cardoso (Koordinator unseres Büros in Brasilien) und ich das Camp Lula Livre («Freiheit für Lula») in Curitiba, das direkt gegenüber dem Gefängnis errichtet wurde, in dem der ehemalige Präsident Luiz Inácio Lula da Silva in einer 15 Quadratmeter großen Zelle saß. Lula war damals seit 500 Tagen im Gefängnis. Jeden Tag versammelten sich Hunderte von Menschen im Camp Lula Livre, um ihm einen guten Morgen, einen guten Tag und eine gute Nacht zu wünschen – ein Gruß, der ihn bei Laune halten und gleichzeitig einen lebhaften Protest gegen seine Inhaftierung darstellen sollte. Achtzig Tage später wurde Lula aus dem Gefängnis entlassen, freigesprochen von allen Anschuldigungen, die von den meisten Beobachter*innen zu Recht als absurd eingestuft worden waren. Er ist nun der Spitzenkandidat bei den Präsidentschaftswahlen, die am 2. Oktober 2022 stattfinden werden.
Eines der Merkmale der Mahnwache vor dem Bundesgefängnis war die Allgegenwärtigkeit von Aktivist*innen der Bewegung der Landlosen Arbeiter*innen (MST). Ihre Fahnen waren überall zu sehen, und ihre Kader bildeten das Rückgrat der Bewegung zur Befreiung Lulas, die sich von Curitiba aus in alle Ecken des Landes ausbreitete. Die MST wurde 1984 während der Militärdiktatur (1964–85) gegründet und entstand aus den Besetzungen der Latifúndios, riesige Ländereien reicher Einzelpersonen und Unternehmen, durch Landarbeiter*innen und Kleinbäuer*innen. In den letzten vier Jahrzehnten haben diese Bäuer*innen die Kontrolle über Millionen von Hektar Land in ganz Brasilien übernommen und bilden die größte soziale Bewegung in Lateinamerika.
Etwa 500.000 Haushalte leben in diesen von der MST besetzten Gebieten, was bedeutet, dass die MST etwa zwei Millionen Menschen für ihre Bewegung mobilisert hat. Etwa 100.000 Familien leben in Lagern (acampamentos), d.h. auf brachliegenden Flächen, zu denen sie keinen formellen Zugang haben; 400.000 Familien leben in Siedlungen (assentamentos), deren Land sie rechtmäßig besitzen, da die liberalen Bestimmungen in Kapitel III der Verfassung von 1988, Artikel 184, besagen, dass die Regierung «aus sozialem Interesse für die Zwecke der Agrarreform ländliches Eigentum enteignen kann, das keine soziale Funktion erfüllt». Es ist allerdings wichtig festzuhalten, dass der brasilianische Staat immer wieder versucht, Familien aus diesen legalen Lagern zu vertreiben.
Die Bewohner*innen der Siedlungen organisieren sich in verschiedenen demokratischen Strukturen, gründen Schulen für ihre Kinder und Gemeinschaftsküchen für Bedürftige und entwickeln agrarökologische Anbautechniken zur Deckung des Eigenbedarfs und zum Verkauf auf dem Markt. Die MST ist heute in der sozialen Landschaft Brasiliens verwurzelt; es ist unmöglich, an das Land zu denken, ohne dass die rote Fahne der Bewegung über diesen Lagern vom Amazonas im Norden bis nach Arroio Chuí, dem südlichsten Punkt Brasiliens, weht.
Hinter den umfangreichen Aktivitäten der MST steht eine Theorie, die in Konzepten wie der Agrarreform wurzelt und an verschiedenen Stellen erläutert wird. Die stellvertretende Direktorin unseres Instituts, Renata Porto Bugni, fragte ein Mitglied der nationalen Koordination des MST, Neuri Rossetto, wie er die Theorie der Bewegung versteht und was für eine Bedeutung die Schriften des italienischen Kommunisten Antonio Gramsci für sie haben. Dieses Interview wurde gemeinsam mit GramsciLab und dem Centro per la Riforma dello Stato veröffentlicht und in unserem Dossier Nr. 54 (Juli 2022), Gramsci Amidst Brazil’s Landless Workers’ Movement (MST) veröffentlicht. Neuri, wie er lieber genannt wird, teilt sein Verständnis von Gramsci und spricht über die drei wichtigsten Herausforderungen für die MST:
- Genau zu identifizieren, wer und was der Bewältigung der Probleme der Menschheit (wie etwa Agrarreform) im Wege steht;
- einen fortlaufenden Dialog mit der Arbeiterklasse aufzubauen, um ein politisches Programm für jedes Land zu entwickeln; und
- die politischen und organisatorischen Kapazitäten der wichtigsten Kräfte, die unsere Kämpfe vorantreiben, zu stärken.
Hegemonie entsteht, wie Gramsci betonte, aus der Praxis, ein neues politisches Projekt aus dem «gesunden Menschenverstand» des Volkes zusammenzusetzen und diese Ideen zu einer kohärenten Philosophie auszuarbeiten. Das zentrale Konzept für die MST zur Ausarbeitung dieser Theorie ist die Agrarreform. Neuri zufolge kämpft dieses Reformprojekt «für ein Agrarmodell, in dessen Mittelpunkt die Produktion gesunder Nahrungsmittel für die brasilianische Bevölkerung steht, und gleichzeitig für die Demokratisierung des Landbesitzes». Die MST organisiert die Bäuer*innen, um nicht nur ihre Kontrolle über das Land, sondern auch über die landwirtschaftliche Produktion zu verbessern, unter anderem durch den Verzicht auf giftige Chemikalien, die sowohl das Land als auch die Gesundheit der Arbeiter*innen zerstören. Dieses Projekt ist nun mit dem Interesse der Verbraucher*innen an Lebensmitteln verbunden, deren Bestandteile ihnen nicht schaden und deren Produktion den Planeten nicht zerstört. Die Perspektive, dass sie die Mehrheit der 212 Millionen Einwohner*innen des Landes im Streben nach einer Agrarreform vereinen könnten, gibt der MST Auftrieb.
Ist die MST eine soziale Bewegung oder eine politische Partei? Diese Frage hat die Bewegung seit ihrer Entstehung vor fast vierzig Jahren beschäftigt. Aus gramscianischer Sicht ist die Unterscheidung zwischen diesen beiden – soziale Bewegung und politische Partei – in der Tat nicht so wichtig. Neuris Kommentar zu diesen Themen in dem Interview ist sehr aufschlussreich:
Wir sind uns der Verantwortung und der Notwendigkeit bewusst, unsere politische Wirkungskraft zu verbessern, sowohl in organisatorischer als auch in ideologischer Hinsicht, um einen größeren Einfluss im Klassenkampf zu haben. Wir erheben jedoch nicht den Anspruch, die Rolle einer politischen Partei im eigentlichen Sinne zu übernehmen, da wir glauben, dass dieses politische Instrument unsere Möglichkeiten übersteigt. Das soll nicht heißen, dass wir eine überparteiliche oder unparteiliche Haltung einnehmen. Wir sind überzeugt, dass die Artikulation von Arbeiterbewegungen, Gewerkschaften und politischen Parteien von grundlegender Bedeutung für den Aufbau einer anderen Gesellschaft ist, die alternativ und im Gegensatz zur bürgerlichen Ordnung steht. … [W]ir unterschätzen nicht die Bedeutung und Kraft der politischen Handlung und der Volksmobilisierungen als erzieherisches Element für die subalternen Klassen. Die Volksmassen lernen und erziehen sich selbst in den Volksmobilisierungen. Hier, in der Massenbewegung, liegt die politische Kraft der Organisation; hier wird das politisch-ideologische Niveau der Massen angehoben.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die MST Teil eines Prozesses zum Aufbau der organisatorischen und ideologischen Stärke der Bauernschaft ist und dass sie mit den Gewerkschaftsbewegungen und anderen Organisationen zusammenarbeitet, um ein politisches Projekt der sozialen Emanzipation zu schaffen. Zu diesem Zweck beteiligt sich die MST am Aufbau des Volksprojekts für Brasilien (Projeto Brasil Popular), das, wie Neuri sagt, «auf die Konsolidierung eines historischen Blocks abzielt, der antikapitalistische, emanzipatorische Kämpfe und unmittelbare wirtschaftliche Gewinne fördert, die den Bedürfnissen und Interessen der Arbeiterklasse entsprechen». Die Förderung des Selbstbewusstseins und der Macht der Arbeiterklasse und der Landbevölkerung steht daher im Mittelpunkt der Tätigkeit der MST. Ein Teil dieser Arbeit bestand darin, sich gegen die Hetzjagd auf Lula zu wehren.
In den Jahren 1962–63, als Brasilien von einem Mitte-Links-Bündnis unter der Führung von Präsident João Goulart regiert wurde, herrschte im Land eine Stimmung des Wandels und der Entfaltung. In dieser Zeit schrieb der amazonische Dichter Thiago de Mello (1926–2022) das Gedicht «Madrugada camponesa» («Ländliches Morgengrauen»), das die harte Arbeit der Bäuer*innen beschreibt, die nicht nur Nahrung, sondern auch Hoffnung anbauen. Als das Gedicht 1965 in einem Buch mit dem Titel Faz escuro mas eu canto («Es ist dunkel, aber ich singe») veröffentlicht wurde, hatte sich die politische Lage in Brasilien geändert, nachdem ein von den USA angeführter Staatsstreich Goulart gestürzt und 1964 das Militär an die Macht gebracht hatte. Die Zeile «Es ist dunkel, aber ich singe, denn der Morgen wird kommen» im Gedicht erhielt eine neue Bedeutung. Im darauffolgenden Jahr sang Nara Leão diese Worte und machte sie zu einer Hymne der damaligen Zeit. Wir beenden unseren Newsletter in dieser Woche mit dem Gedicht von de Mello, einer Hommage an die Bauernschaft und den Kampf gegen die Diktatur von Macht, Privilegien und Eigentum.
Im ländlichen Morgengrauen
ist noch dunkel die Erde,
aber es wartet die Saat.
Tiefer war die Nacht
Bald wird es Tag.
Nicht mehr zählt das Lied
aus Angst und Schein,
das Einsamkeit verhüllt.
Jetzt zählt die Wahrheit,
einfach und immer gesungen.
Jetzt zählt die Freude,
täglich aufs neue errungen,
mit Brot und Gesang.
Bald (ich spür’s in der Luft),
wird der Weizen reifen,
und die Zeit der Ernte ruft.
Wunder fallen wie blauer Regen auf den Mais,
die Bohne sprengt ihre Blüte,
und in der Ferne quillt neue Milch
aus meinen Kautschukbäumen.
Morgenröte der Hoffnung,
die Zeit der Liebe ist fast da.
Ich ernte eine feurige Sonne, die auf dem Boden brennt,
und pflüge das Licht aus dem Inneren des Zuckerrohrs,
meine Seele flattert wie ein Wimpel.
Ländliches Morgengrauen,
noch ist es dunkel (aber nicht mehr ganz so sehr)
Es ist Zeit zu arbeiten.
Noch ist es dunkel, aber ich singe,
weil der Tag kommt.
(Noch ist es dunkel, aber ich singe)
Herzlichst,
Vijay