Das Geräusch seiner nahenden Schritte weckt mich, und ich sehe, was mein Land entbehrt.

Der siebenunddreißigste Newsletter (2021).

Mrin­moy Debbarma (Tripura, Indien), Once a Jungle, 2015.

Liebe Freund*innen,

 

Grüße vom Schreib­tisch des Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

Am Mitt­woch, dem 8. Septem­ber, grif­fen Partei­mit­glie­der der Bhara­tiya Janata Party (BJP), Indi­ens regie­ren­der poli­ti­scher Partei, drei Gebäude im Stadt­teil Melar­math von Agar­tala (Tripura) an. Ziel der Angriffe waren die Büros der Kommu­nis­ti­schen Partei Indi­ens (Marxis­tisch), die kommu­nis­ti­sche Zeitung Daily Deshar Katha und zwei private Medi­en­häu­ser, Prati­badi Kalam und PN-24. Die Gewalt­ta­ten fanden am hell­lich­ten Tag statt, während die Poli­zei untä­tig zusah. In ganz Tripura wurden vier­und­fünf­zig weitere Büros der Kommu­nis­ti­schen Partei angegriffen.

 

Die Kommu­nis­ti­sche Partei, kurz CPI(M), und die Medi­en­häu­ser hatten sich kritisch über die BJP-geführte Regie­rung des Bundes­staa­tes geäu­ßert. Die CPI(M) und andere Orga­ni­sa­tio­nen gingen auf die Straße, um gegen eine Reihe poli­ti­scher Maßnah­men zu protes­tie­ren; diese Proteste fanden in der Bevöl­ke­rung große Unter­stüt­zung. Die CPI(M) war eine wich­tige Kraft in der Links­front, die den Bundes­staat von 1978 bis 1988 und von 1993 bis 2018 regierte.

Arpita Singh (Indien), What Are You Doing Here?, 2000.

Wenige Tage vor den Anschlä­gen sollte der ehema­lige Minis­ter­prä­si­dent Manik Sarkar, ein Führungs­mit­glied der CPI(M), in seinem Wahl­kreis in Dhan­pur (Sepa­hi­jala) spre­chen. BJP-Mitglie­der versuch­ten, Sarkars Auto an der Einfahrt nach Dhan­pur zu hindern. Sarkar, der von CPI(M)-Kadern beglei­tet wurde, legte sechs Kilo­me­ter durch zwei BJP-Barri­ka­den zu Fuß zurück. Sarkars öffent­li­che Versamm­lung ist Teil der breit ange­leg­ten kommu­nis­ti­schen Kampa­gne gegen die BJP.

 

Seit 2018 sind die Angriffe auf die CPI(M) zur Routine gewor­den. Die Kommunist*innen in Tripura berich­ten, dass zwischen März 2018 und Septem­ber 2020 139 Partei­bü­ros in Brand gesetzt, 346 Partei­bü­ros verwüs­tet, 200 Büros von Massen­or­ga­ni­sa­tio­nen demo­liert, 190 Wohnun­gen von CPI(M)-Kadern zerstört, 2.871 Wohnun­gen von Partei­mit­ar­bei­tern ange­grif­fen, 2.656 Partei­mit­ar­bei­ter körper­lich atta­ckiert und 18 CPI(M)-Führer und ‑Kader getö­tet wurden.

 

Enga­gierte Menschen und Orga­ni­sa­tio­nen aus der ganzen Welt, darun­ter die Inter­na­tio­nal Peop­les Assem­bly, verur­teil­ten die Angriffe auf Indi­ens Linke.

Gopal Dagnogo (Côte d’Ivoire), Nature morte aux poules, 2019.

Was sich in Tripura, einem Bundes­staat im Nord­os­ten Indi­ens mit fast 3,6 Millio­nen Einwohner*innen, ereig­net hat, ist in der Demo­kra­tie unse­rer Zeit zu einer Alltäg­lich­keit gewor­den. Poli­ti­sche Gewalt des rech­ten Flügels gegen dieje­ni­gen, die den Stim­men des Volkes Gehör verschaf­fen wollen, ist inzwi­schen Routine.

 

Nur wenige Wochen vor diesem Angriff in Tripura wurde durch einen abscheu­li­chen Gewalt­akt ein Gewerk­schafts­füh­rer in Südafrika zum Schwei­gen gebracht. Am 19. August wurde Mali­bongwe Mdazo in Rusten­burg (Südafrika) erschos­sen, als er an der Eingangs­tür der Kommis­sion für Schlich­tung, Media­tion und Schieds­ver­fah­ren stand. Mdazo, ein führen­der Vertre­ter der Natio­nal Union of Metal­wor­kers of South Africa (NUMSA), hatte nur einen Monat zuvor einen Streik von 7.000 Arbeitnehmer*innen gegen Impala Plati­num Holdings, den zweit­größ­ten Platin­pro­du­zen­ten der Welt, angeführt.

 

Der poli­ti­sche Mord an Mdazo ereig­nete sich neun Jahre nach dem schreck­li­chen Massa­ker in Mari­kana, bei dem 34 Berg­leute aus den Platin­mi­nen des briti­schen Berg­bau­un­ter­neh­mens Lonmin getö­tet wurden. Der Platin­gür­tel in Südafrika ist nicht nur wegen der Ermor­dung von Mdazo und des Massa­kers von Mari­kana voller Span­nun­gen, sondern wegen der selbst­ver­ständ­li­chen Weise, mit der die Part­ner der Berg­bau­un­ter­neh­men – einschließ­lich riva­li­sie­ren­der Gewerk­schaf­ten –, Arbeits­kämpfe mittels grau­sa­mer Gewalt beilegen.

Kudz­anai-Violet Hwami (Simbabwe), A Theory on Adam, 2020.

Im Dossier Nr. 31 (August 2020), ‘The Poli­tic of Blood’: Poli­ti­cal Repres­sion in South Africa haben wir die poli­ti­sche Gewalt, die in Südafrika alltäg­lich gewor­den ist, kata­lo­gi­siert. Zwei Absätze aus diesem Bericht sollen hier zitiert werden:

 

Die Ermor­dung von Gewerk­schafts­füh­rern geht weiter. Bongani Cola, der stell­ver­tre­tende Vorsit­zende der vom ANC unab­hän­gi­gen Demo­cra­tic Muni­ci­pal and Allied Workers Union of South Africa (Dema­wusa), wurde am 4. Juli 2019 in der Stadt Port Eliza­beth ermordet.

 

Die Verflech­tung zwischen multi­na­tio­na­len Berg­bau­un­ter­neh­men, tradi­tio­nel­len Auto­ri­tä­ten und poli­ti­schen Eliten führt weiter­hin zu anhal­ten­der Gewalt gegen Aktivist*innen, die sich gegen den Berg­bau enga­gie­ren. Am 26. Januar 2020 wurden Spha­mandla Phun­gula und Mlon­do­lozi Zulu in Dann­hau­ser, einer Kohle­berg­bau­stadt im länd­li­chen KwaZulu-Natal, ermor­det. Am 25. Mai 2020 wurde Philip Mkhwa­nazi, ein Anti-Berg­bau-Akti­vist und ANC-Rats­mit­glied, in der klei­nen Küsten­stadt St. Lucia, eben­falls in KwaZulu-Natal, ermor­det. Einen Monat später über­lebte Mzot­hule Biyela ein Atten­tat in dem von der Mpuku­n­yoni Tribal Autho­rity verwal­te­ten Gebiet, eben­falls an der Nord­küste von KwaZulu-Natal.

 

Diese Gewerkschaftsaktivist*innen, poli­ti­schen Anführer*innen und Gemeinschaftsorganisator*innen sind Menschen, die dafür kämp­fen, das Selbst­ver­trauen der Bevöl­ke­rung zu stär­ken. Wenn diese Anführer*innen ermor­det werden oder wenn Gebäude in Brand gesteckt werden, flackert ein Licht auf. Dieje­ni­gen, die die Gewalt ausüben, erwar­ten, dass die Flamme des Wider­stands erlischt und die Menschen sich unter­wer­fen, weil sie nicht mehr an ihre Fähig­keit glau­ben, die Welt zu verän­dern. Das ist eine der mögli­chen Folgen solcher poli­ti­schen Gewalt. Das andere Ergeb­nis ist genauso wahr­schein­lich, nämlich, dass diese Todes­fälle und diese Gewalt den Mut befeu­ern. Phun­gula, Zulu, Mkhwa­nazi und jetzt Mdazo sind Namen, die uns aufrüt­teln, die uns zwin­gen, Sauer­stoff in die Glut zu blasen und die Flamme der Rebel­lion neu zu entfachen.

Lili Bernard (Kuba), Carlota, die das Volk führt (nach Eugene Delacroix’ Die Frei­heit, die das Volk führt, 1830), 2011.

Als die BJP-Arbei­ter das CPI(M)-Büro angrif­fen, versuch­ten sie auch, die Statue von Dashrath Deb (1916–1998) zu zerschla­gen, der den Befrei­ungs­kampf in Tripura gegen den letz­ten König anführte. Deb wurde in einer armen Bauern­fa­mi­lie gebo­ren, die tief in der indi­ge­nen Kultur Tripuras verwur­zelt war. Er war ein verehr­ter kommu­nis­ti­scher Anfüh­rer, der als Minis­ter­prä­si­dent von 1993 bis 1998 für die Demo­kra­ti­sie­rung aller Lebens­be­rei­che in Tripura kämpfte. Dank der von Deb geführ­ten Kämpfe, die dann Manik Sarkar von der Links­front-Regie­rung fort­setzte, erlebte der Staat bemer­kens­werte Fort­schritte in der mensch­li­chen Entwick­lung. Als die Kommu­nis­ti­sche Partei 2018 aus dem Amt schied, lag die Alpha­be­ti­sie­rungs­rate des Bundes­staa­tes bei 97 %, wozu auch die allge­meine kosten­lose Bildung (einschließ­lich kosten­lo­ser Schul­bü­cher) und eine massive Elek­tri­fi­zie­rungs­kam­pa­gne beitru­gen (90 % der Haus­halte im Bundes­staat haben Strom).

Avin­ash Chandra (Indien), Early Figu­res, 1961.

Als die BJP im Bundes­staat an die Macht kam, zerstör­ten ihre Mitglie­der etli­che Statuen von Dashrath Deb und grif­fen Einrich­tun­gen an, die seinen Namen trugen. Die Tatsa­che, dass Dashrath Deb ein Stam­mes­füh­rer war, legt die Feind­se­lig­keit der BJP-Mitglie­der offen, mit der sie nicht nur Linke angrei­fen, sondern auch eine deut­li­che Botschaft an Stam­mes­grup­pen und unter­drückte Kasten senden, dass sie in Gegen­wart der histo­risch mäch­ti­gen Gemein­schaf­ten ihre Köpfe einzu­zie­hen haben. Es handelt sich dabei nicht nur um poli­ti­sche Gewalt, sondern auch um soziale Gewalt, die sich gegen dieje­ni­gen rich­tet, die es wagen, ihr Gesicht zu zeigen und die Welt nach ihren Vorstel­lun­gen zu gestal­ten, wie die Garifuna-Führer*innen in Hondu­ras und die afro-kolum­bia­ni­schen Anführer*innen in Kolum­bien. Ein neuer Bericht von Global Witness, Last Line of Defence, zeigt, dass im Jahr 2020 eine große Zahl indi­ge­ner Aktivist*innen getö­tet wurde (227, d. h. mehr als vier pro Woche); die Hälfte von ihnen wurde in nur drei Ländern (Kolum­bien, Mexiko und den Phil­ip­pi­nen) getö­tet, und alle kämpf­ten für die Vertei­di­gung der Würde des Menschen und der Unver­sehrt­heit der Natur.

 

Einer der großen Dich­ter und kommu­nis­ti­schen Führer Tripuras, Anil Sarkar, verbrachte einen Groß­teil seiner lite­ra­ri­schen und poli­ti­schen Karriere damit, die Stim­men und das Schick­sal der unter­drück­ten Kasten (Dalits) im Bundes­staat zu erhe­ben. Sarkars kraft­volle Poesie macht deut­lich, dass die alten sozia­len Kräfte nicht mehr in der Lage sind, die Gesell­schaft zu beherr­schen, wie sie es einst taten. Es gibt nicht nur das Beispiel des großen Führers Dr. B. R. Ambedkar, sondern auch das Erbe von Karl Marx und der Linken. «Der Klang seiner nahen­den Schritte weckt mich», schrieb Sarkar über seine Entde­ckung von Marx in Marxer Prati, «und ich sehe, was mein Land entbehrt». In einem ande­ren seiner Gedichte sang Sarkar zu Heera Singh Hari­jan, einem Dalit, dass ihm die Macht nicht geschenkt würde; «du musst sie dir, wenn du erwach­sen bist, mit aller Kraft nehmen».

 

Herz­lichst,

 

Vijay

Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.