Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen.

Der siebzehnte Newsletter (2021).

Eine Massen­kund­ge­bung mit der Freien Deut­schen Jugend zur Grün­dung der Deut­schen Demo­kra­ti­schen Repu­blik in der Sowje­ti­schen Besat­zungs­zone, Okto­ber 1949.

Liebe Freunde,

 

Grüße vom Schreib­tisch des Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

Eine ganze Gene­ra­tion ist vergan­gen, seit die Union der Sozia­lis­ti­schen Sowjet­re­pu­bli­ken (UdSSR) Ende 1991 zusam­men­brach. Zwei Jahre zuvor, 1989, lösten sich die kommu­nis­ti­schen Staa­ten Osteu­ro­pas auf, wobei die erste Salve abge­feu­ert wurde, als Ungarn seine Grenze öffnete. Am 3. März 1989 fragte der letzte kommu­nis­ti­sche Minis­ter­prä­si­dent Ungarns, Miklós Németh, den letz­ten Präsi­den­ten der UdSSR, Michail Gorbat­schow, ob die Grenze zu West­eu­ropa geöff­net werden könne. «Wir haben ein stren­ges Regime an unse­ren Gren­zen», sagte Gorbat­schow zu Németh, «aber wir werden auch offe­ner.» Drei Monate später, am 15. Juni, sagte Gorbat­schow vor der Presse in Bonn (West­deutsch­land), dass die Berli­ner Mauer «verschwin­den könnte, wenn die Voraus­set­zun­gen, die sie hervor­ge­bracht haben, nicht mehr bestehen». Er nannte die Vorbe­din­gun­gen nicht, aber er sagte: «Nichts ist dauer­haft unter dem Mond.» Am 9. Novem­ber 1989 wurde die Berli­ner Mauer nieder­ge­ris­sen. Im Okto­ber 1990 ging die Deut­sche Demo­kra­ti­sche Repu­blik (DDR) in einem verein­ten Deutsch­land unter west­deut­scher Domi­nanz auf.


Im Zuge der Wieder­ver­ei­ni­gung muss­ten die Struk­tu­ren der DDR besei­tigt werden. Unter der Leitung des sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Poli­ti­kers Detlev Rohwed­der schu­fen die neuen Macht­ha­ber die Treu­hand­an­stalt, um 8.500 volks­ei­gene Betriebe zu priva­ti­sie­ren, die über 4 Millio­nen Arbeit­neh­mer beschäf­tig­ten. «Schnell priva­ti­sie­ren, entschlos­sen umstruk­tu­rie­ren und behut­sam still­le­gen», sagte Rohwed­der. Doch bevor er dies tun konnte, wurde Rohwed­der im April 1991 ermor­det. Seine Nach­fol­ge­rin wurde die Ökono­min Birgit Breuel, die der Washing­ton Post sagte: «Wir können versu­chen, uns den Menschen zu erklä­ren, aber sie werden uns nie lieben. Denn was auch immer wir tun, es ist schwer für die Menschen. Bei jedem der 8.500 Unter­neh­men priva­ti­sie­ren oder restruk­tu­rie­ren wir oder schlie­ßen sie. In jedem Fall verlie­ren die Menschen ihren Arbeits­platz.» Hunderte von Firmen, die zuvor Volks­ei­gen­tum waren, gingen in private Hände über und Millio­nen von Menschen verlo­ren ihre Arbeit; in dieser Zeit verlo­ren 70 % der Frauen ihre Arbeit. Das atem­be­rau­bende Ausmaß der Korrup­tion und Vettern­wirt­schaft von Treu­hand und west­deut­schen Unter­neh­men kam erst Jahr­zehnte später in einer parla­men­ta­ri­schen Unter­su­chung im Jahr 2009 ans Licht.

Bauern einer Land­wirt­schaft­li­chen Produk­ti­ons­ge­nos­sen­schaft über­rei­chen dem Botschaf­ter der Demo­kra­ti­schen Repu­blik Viet­nam eine Soli­da­ri­täts­fahne mit der Aufschrift «Soli­da­ri­tät hilft siegen» , 1972.

Nicht nur, dass das öffent­li­che Eigen­tum der DDR in die Taschen des Privat­ka­pi­tals wanderte, auch die gesamte Geschichte des Projekts verschwand im Dunst anti­kom­mu­nis­ti­scher Rheto­rik. Das einzige Wort, das übrig blieb, um die vier­zig Jahre der DDR-Geschichte zu defi­nie­ren, war Stasi, die umgangs­sprach­li­che Bezeich­nung für das Minis­te­rium für Staats­si­cher­heit. Alles andere spielte keine Rolle. Weder die Entna­zi­fi­zie­rung dieses Teils Deutsch­lands – die im Westen nicht durch­ge­führt wurde – noch die beein­dru­cken­den Errun­gen­schaf­ten in den Berei­chen Wohnen, Gesund­heit, Bildung und sozia­les Leben nehmen in der öffent­li­chen Vorstel­lung Raum ein. Der Beitrag der DDR zum anti­ko­lo­nia­len Kampf oder zu den sozia­lis­ti­schen Aufbau­ver­su­chen von Viet­nam bis Tansa­nia wird kaum erwähnt. All das ist verschwun­den, die Erup­tion der Wieder­ver­ei­ni­gung hat die Errun­gen­schaf­ten der DDR verschluckt und einen Asche­hau­fen sozia­ler Verzweif­lung und Amne­sie zurück­ge­las­sen. Kein Wunder, dass eine Umfrage nach der ande­ren – ob in den 1990er oder 2000er Jahren – zeigt, dass viele Menschen in den neuen Bundes­län­dern sehn­süch­tig auf die DDR-Vergan­gen­heit zurück­bli­cken. Diese als rück­wärts­ge­wandte Ostal­gie diffa­mierte Haltung ist nach wie vor intakt, verstärkt durch die höhere Arbeits­lo­sig­keit und die nied­ri­ge­ren Einkom­men im Osten gegen­über dem Westen Deutschlands.

 

1998 grün­dete der Deut­sche Bundes­tag die Bundes­stif­tung zur Aufar­bei­tung der SED-Dikta­tur in Ostdeutsch­land, die die Bedin­gun­gen für die natio­nale Aufar­bei­tung der kommu­nis­ti­schen Geschichte fest­legte. Der Auftrag der Orga­ni­sa­tion war es, Forschun­gen über die DDR zu finan­zie­ren, die diese nicht als histo­ri­sches Projekt, sondern als krimi­nel­les Unter­neh­men darstell­ten. Die Wut beherrschte das histo­ri­sche Unter­fan­gen. Der Versuch, Marxis­mus und Kommu­nis­mus in Deutsch­land zu dele­gi­ti­mie­ren, spie­gelte die Versu­che in ande­ren Ländern Euro­pas und Nord­ame­ri­kas wider, die sich beeil­ten, das Wieder­auf­tau­chen dieser linken Ideo­lo­gien zu ersti­cken. Die Heftig­keit der Bemü­hun­gen, die Geschichte umzu­schrei­ben, deutete darauf hin, dass man ihre Wieder­kehr fürchtete.

In diesem Monat hat Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch in Zusam­men­ar­beit mit der Inter­na­tio­na­len Forschungs­stelle DDR (IF DDR) die erste einer neuen Reihe von Studien zur DDR heraus­ge­ge­ben. Die erste Studie, Aufer­stan­den aus Ruinen: Die Wirt­schafts­ge­schichte des Sozia­lis­mus in der Deut­schen Demo­kra­ti­schen Repu­blik, geht unter den anti­kom­mu­nis­ti­schen Schlamm, um die histo­ri­sche Entwick­lung des vier­zig­jäh­ri­gen Projekts in der DDR auf vernünf­tige Weise frei­zu­le­gen. Von Berlin aus durch­fors­te­ten die Autoren des Textes die Archive und Erin­ne­run­gen und befrag­ten dieje­ni­gen, die den Sozia­lis­mus in Deutsch­land auf verschie­de­nen Ebenen der Gesell­schaft mit aufge­baut haben.

 

Peter Hacks, ein Dich­ter der DDR, sagte rück­bli­ckend: «Der schlech­teste Sozia­lis­mus ist besser als der beste Kapi­ta­lis­mus. Der Sozia­lis­mus, jene Gesell­schaft, die gestürzt wurde, weil sie tugend­haft war (ein Fehler auf dem Welt­markt). Jene Gesell­schaft, deren Wirt­schaft andere Werte respek­tiert als die Akku­mu­la­tion von Kapi­tal: die Rechte ihrer Bürger auf Leben, Glück und Gesund­heit; Kunst und Wissen­schaft; Nütz­lich­keit und die Redu­zie­rung von Verschwen­dung.» Denn im Sozia­lis­mus, so Hacks, ist nicht das Wirt­schafts­wachs­tum, sondern «das Wachs­tum seiner Menschen das eigent­li­che Ziel der Wirt­schaft». Aufer­stan­den aus Ruinen schil­dert die Geschichte der DDR und ihrer Menschen von der Asche Deutsch­lands nach der Nieder­lage des Faschis­mus bis zur wirt­schaft­li­chen Ausplün­de­rung der DDR nach 1989.

Ein von der Freien Deut­schen Jugend Leip­zig errich­te­tes Denk­mal für Patrice Lumumba; die Straße wurde in einer Zere­mo­nie mit kongo­le­si­schen Studen­ten in «Lumumba-Straße» umbe­nannt, 1961.

Einer der am wenigs­ten bekann­ten Teile der Geschichte der DDR ist ihr Inter­na­tio­na­lis­mus, der in dieser Studie wunder­bar heraus­ge­ar­bei­tet wird. Drei kurze Auszüge machen das deutlich:

 

(1) Soli­da­ri­täts­ar­beit. Zwischen 1964 und 1988 wurden sech­zig Freund­schafts­bri­ga­den der Freien Deut­schen Jugend (der Massen­or­ga­ni­sa­tion der DDR-Jugend) in sieben­und­zwan­zig Länder entsandt, um ihr Wissen weiter­zu­ge­ben, beim Aufbau zu helfen, Ausbil­dungs­mög­lich­kei­ten und Bedin­gun­gen für wirt­schaft­li­che Selbst­ver­sor­gung zu schaf­fen. Einige dieser Projekte bestehen heute noch, wenn auch unter ande­ren Namen, wie z.B. das Carlos-Marx-Kran­ken­haus in Mana­gua, Nica­ra­gua, das Deutsch-Viet­na­me­si­sche Freund­schafts­kran­ken­haus in Hanoi, Viet­nam, und die Karl-Marx-Zement­fa­brik in Cien­fue­gos, Kuba, um nur einige zu nennen.

 

(2) Lern- und Austausch­mög­lich­kei­ten. Insge­samt haben mehr als 50.000 auslän­di­sche Studen­ten ihre Ausbil­dung an den Univer­si­tä­ten und Hoch­schu­len der DDR erfolg­reich abge­schlos­sen. Die Finan­zie­rung des Studi­ums erfolgte aus dem Staats­haus­halt der DDR. In der Regel fielen keine Studi­en­ge­büh­ren an, eine große Zahl auslän­di­scher Studen­ten erhielt Stipen­dien, und für die Unter­brin­gung in Studen­ten­wohn­hei­men wurde gesorgt. Neben den Studen­ten kamen auch viele Vertrags­ar­bei­ter aus verbün­de­ten Staa­ten wie Mosam­bik, Viet­nam und Angola sowie aus Polen und Ungarn in die DDR, die eine Berufs­aus­bil­dung und Arbeit in der Produk­tion such­ten. Bis zum Schluss blie­ben die auslän­di­schen Arbeits­kräfte ein Schwer­punkt, die Zahl der Vertrags­ar­bei­ter stieg von 24.000 auf 94.000 (1981–1989). 1989 erhiel­ten alle Auslän­der in der DDR das volle kommu­nale Wahl­recht und began­nen, selbst Kandi­da­ten aufzustellen. 

 

(3) Poli­ti­sche Unter­stüt­zung. Während der Westen Nelson Mandela und den Afri­can Natio­nal Congress (ANC) als Terro­ris­ten und «Rassis­ten» verleum­dete und mit dem Apart­heid-Regime in Südafrika Geschäfte machte – sogar Waffen­lie­fe­run­gen –, unter­stützte die DDR den ANC, bildete die Frei­heits­kämp­fer mili­tä­risch aus, druckte ihre Publi­ka­tio­nen und versorgte ihre Verwun­de­ten. Nach­dem schwarze Studen­ten im Town­ship Soweto am 16. Juni 1976 einen Aufstand gegen das Apart­heid­re­gime star­te­ten, begann die DDR, den inter­na­tio­na­len Soweto-Tag als Zeichen der Soli­da­ri­tät mit dem südafri­ka­ni­schen Volk und seinem Kampf zu bege­hen. Die Soli­da­ri­tät wurde sogar auf dieje­ni­gen ausge­dehnt, die im Bauch der Bestie saßen: Als Angela Davis in den USA als Terro­ris­tin ange­klagt wurde, über­reichte ihr ein DDR-Korre­spon­dent Blumen zum Frau­en­tag, und Schü­ler führ­ten die Aktion «Eine Million Rosen für Angela Davis» an, bei der sie LKW-Ladun­gen von Karten mit hand­ge­mal­ten Rosen zu ihr ins Gefäng­nis brachten.

 

Die Erin­ne­rung an diese Soli­da­ri­tät ist weder in Deutsch­land noch in Südafrika mehr vorhan­den. Ohne die mate­ri­elle Unter­stüt­zung durch die DDR, die UdSSR und Kuba wäre die natio­nale Befrei­ung in Südafrika wohl kaum zustande gekom­men. Die kuba­ni­sche mili­tä­ri­sche Unter­stüt­zung für die natio­na­len Befrei­ungs­kämp­fer in der Schlacht von Cuito Cuana­vale 1987 war entschei­dend für diese Nieder­lage der südafri­ka­ni­schen Apart­heid­ar­mee, die schließ­lich zum Zusam­men­bruch des Apart­heid­pro­jekts im Jahr 1994 führte.

Die Freie Deut­sche Jugend, ein Mitglied des Welt­bun­des der Demo­kra­ti­schen Jugend, rich­tete 1973 die Zehn­ten Welt­fest­spiele der Jugend und Studen­ten in Berlin aus.

Orga­ni­sa­tio­nen wie die Bundes­stif­tung zur Aufar­bei­tung der SED-Dikta­tur in der DDR (Berlin) und die Victims of Commu­nism Memo­rial Foun­da­tion (Washing­ton, USA) exis­tie­ren nicht nur, um die kommu­nis­ti­sche Vergan­gen­heit zu verun­glimp­fen und den Kommu­nis­mus schlecht zu machen, sondern um sicher­zu­stel­len, dass kommu­nis­ti­sche Projekte in der Gegen­wart die Strafe für ihre Kari­ka­tu­ren tragen. Ein linkes Projekt in unse­rer Zeit voran­zu­brin­gen – was unbe­dingt notwen­dig ist – wird sehr viel schwie­ri­ger, wenn es den Alba­tros der anti­kom­mu­nis­ti­schen Erfin­dun­gen auf seinem Rücken tragen muss. Das ist der Grund, warum dieses Projekt, ange­führt von IF DDR, so wich­tig ist. Es ist nicht nur eine Ausein­an­der­set­zung mit der DDR, sondern im Kern auch eine umfas­sen­dere Ausein­an­der­set­zung mit den Möglich­kei­ten, die Expe­ri­mente zur Schaf­fung einer sozia­lis­ti­schen Gesell­schaft eröff­nen, und mit den mate­ri­el­len Verbes­se­run­gen, die sie im Leben der Menschen schaf­fen und geschaf­fen haben.

 

Der Sozia­lis­mus entsteht nicht flügge und perfekt geformt. Ein sozia­lis­ti­sches Projekt erbt alle Beschrän­kun­gen der Vergan­gen­heit. Es erfor­dert Mühe und Geduld, ein Land mit seinen Verkrus­tun­gen und Klas­sen­hier­ar­chien in eine sozia­lis­ti­sche Gesell­schaft zu verwan­deln. Die DDR gab es gerade einmal vier­zig Jahre, die Hälfte der Lebens­er­war­tung eines durch­schnitt­li­chen deut­schen Bürgers. In der Nach­wen­de­zeit über­trie­ben die Gegner des Sozia­lis­mus alle seine Probleme, um seine Errun­gen­schaf­ten in den Schat­ten zu stellen.

 

Volker Braun, ein ostdeut­scher Dich­ter, schrieb im Okto­ber 1990 eine Elegie auf sein verges­se­nes Land mit dem Titel Das Eigen­tum oder Property.

 

Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen.
KRIEG DEN HÜTTEN FRIEDE DEN PALÄSTEN.

Ich selber habe ihm den Tritt versetzt.


Es wirft sich weg und seine magre Zierde.
Dem Winter folgt der Sommer der Begierde.


Und ich kann blei­ben wo der Pfef­fer wächst.
Und unver­ständ­lich wird mein ganzer Text.


Was ich niemals besaß wird mir entris­sen.
Was ich nicht lebte, werd ich ewig missen.


Die Hoff­nung lag im Weg wie eine Falle.
Mein Eigen­tum, jetzt habt ihrs auf der Kralle.


Wann sag ich wieder mein und meine alle.

 

Unser Bestre­ben ist es hier nicht, die Rich­tung umzu­keh­ren und alle Errun­gen­schaf­ten zu hervor­zu­he­ben, während wir die Probleme ausblen­den. Die Vergan­gen­heit ist eine Ressource, um die Komple­xi­tät der gesell­schaft­li­chen Entwick­lung zu verste­hen, so dass Lehren daraus gezo­gen werden können, was falsch und was rich­tig gelau­fen ist. Das IF DDR Projekt, in Zusam­men­ar­beit mit Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social rese­arch, inves­tiert in diese Art von Archäo­lo­gie, um zwischen den Knochen zu graben, um zu entde­cken, wie wir Menschen unsere Wirbel­säule besser stre­cken und in Würde aufrecht stehen können.

 

Herz­lich, 

 

Vijay

Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.