IFDDR Newsletter: Oktober 2024

Im Jahr 2015 einig­ten sich die 193 Mitglied­staa­ten der Verein­ten Natio­nen auf die „Agenda 2030 für nach­hal­tige Entwick­lung“, in der sieb­zehn Ziele für nach­hal­tige Entwick­lung (die soge­nann­ten SDGs) fest­ge­legt wurden, die inner­halb von fünf­zehn Jahren erreicht werden soll­ten. In einem Bericht zur Bewer­tung der Fort­schritte dieser Initia­tive kamen die Verein­ten Natio­nen zu dem Schluss, dass im Durschnitt „nur 16 Prozent der Ziele auf dem besten Weg [sind], bis 2030 welt­weit erreicht zu werden, während bei den rest­li­chen 84 Prozent nur begrenzte Fort­schritte oder eine Umkeh­rung der Fort­schritte zu verzeich­nen ist.“ Milli­ar­den von Menschen – vor allem in den ehema­li­gen Kolo­nien – wurden des Fort­schritts beraubt. Sie haben bis heute keinen Zugang zu ange­mes­se­ner Bildung, Gesund­heits­ver­sor­gung, Ernäh­rung und Wohn­raum sowie zu Infor­ma­tion und Kultur.

Der Bereich der Entwick­lungs­theo­rie widmet sich der Frage, warum dieses Elend besteht und wie es am besten zu über­win­den ist. In der Nach­kriegs­zeit stell­ten bürger­li­che Wissen­schaft­ler aus dem Westen bestimmte Theo­rien auf, die den Ländern Afri­kas und Asiens selbst die Schuld gaben. Unter­ent­wick­lung war angeb­lich auf „interne Fakto­ren“ wie kultu­rell bedingte Faul­heit, „tradi­tio­nelle Denk­wei­sen“ oder einen Mangel an Ressour­cen zurückzuführen.

Im Gegen­satz dazu argu­men­tier­ten Wissen­schaft­ler aus sozia­lis­ti­schen Staa­ten, dass diese Unter­ent­wick­lung eine direkte Folge der Kolo­ni­al­herr­schaft und der Aufrecht­erhal­tung der Ausbeu­tung durch neoko­lo­niale Mecha­nis­men sei. Statt über Verhal­tens­mus­ter zu reden, müsste über die Stel­lung der ehema­li­gen Kolo­nien in der globa­len kapi­ta­lis­ti­schen Arbeits­tei­lung gespro­chen werden. Diese Länder wurden als abhän­gige, rück­stän­dige und ausge­beu­tete Kompo­nen­ten (als Rohstoff­lie­fe­ran­ten und Export­märkte) in die kapi­ta­lis­ti­sche Welt­wirt­schaft inte­griert. Bedeu­tende Teile ihrer Volks­wirt­schaf­ten befin­den sich nach wie vor im Besitz und unter der Kontrolle des auslän­di­schen Kapi­tals, so dass es in diesen Ländern keinen „geschlos­se­nen“ Repro­duk­ti­ons­pro­zess gibt. Ein beträcht­li­cher Teil ihres Mehr­pro­dukts und ihrer natür­li­chen Ressour­cen flie­ßen in die impe­ria­lis­ti­schen Metropolen.

In ihrem 1983 erschie­ne­nen Buch kriti­sier­ten die DDR-Wissen­schaft­ler G. Höpp und M. Robbe die bürger­li­chen Entwick­lungs­theo­rien und warben für sozia­lis­tisch orien­tierte Entwicklungskonzeptionen.

Die These der sozia­lis­ti­schen Wissen­schaft­ler war, dass diese Posi­tion inner­halb der globa­len kapi­ta­lis­ti­schen Arbeits­tei­lung bedeu­tete, dass die ehema­li­gen Kolo­nien nicht in der Lage sein würden, sich auf demsel­ben Weg zu entwi­ckeln, den West­eu­ropa beschrit­ten hatte. Die Mecha­nis­men der kapi­ta­lis­ti­schen Wirt­schaft bewahr­ten und vertief­ten die Abhän­gig­keits­ver­hält­nisse. Zwar könn­ten bestimmte Staa­ten zeit­weise ein star­kes Wirt­schafts­wachs­tum in Bezug auf das BIP erzie­len, doch gehe dies nicht mit einer „umfas­sen­den Entwick­lung der natio­na­len Wirt­schaft und einer Verrin­ge­rung der Abhän­gig­keit und Ausbeu­tung durch das inter­na­tio­nale Mono­pol­ka­pi­tal einher.“ (Herbert Graf, 1988)

Betrach­tet man den Stand der wirt­schaft­li­chen Entwick­lung Afri­kas heute, so bestä­tigt sich diese These. Zwischen 2000 und 2014 verzeich­nete der Konti­nent beispiels­weise Wachs­tums­ra­ten von rund 4,5 Prozent, was in den west­li­chen Medien mit dem Narra­tiv „Afrika im Aufstieg“ gefei­ert wurde. Doch hinter diesen Zahlen verbirgt sich eine düstere Reali­tät: Der Anteil der verar­bei­ten­den Indus­trie am Brut­to­in­lands­pro­dukt der afri­ka­ni­schen Länder südlich der Sahara ist seit den 1970er Jahren tatsäch­lich geschrumpft. Die Real­löhne sind dadurch eben­falls geschrumpft und liegen heute unter dem Wert der 1970er Jahre. Das heißt, Afrika hat ein Wachs­tum ohne Indus­tria­li­sie­rung erlebt, wobei die hohen wirt­schaft­li­chen Wachs­tums­ra­ten auf die stei­gende Nach­frage und die stei­gen­den Preise für natür­li­che Ressour­cen zurück­zu­füh­ren sind, was die Entwick­lung nicht nach­hal­tig macht. „Indus­tria­li­sie­rung ist die Essenz der Entwick­lung“, betonte wieder­holt die Afri­ka­ni­sche Union. Tatsäch­lich wurde Afrika durch seine tiefere Inte­gra­tion in die kapi­ta­lis­ti­sche Welt­wirt­schaft zuletzt deindustrialisiert.

Der Anteil der verar­bei­ten­den Indus­trie am Brut­to­in­lands­pro­dukt der afri­ka­ni­schen Länder südlich der Sahara von 1971 bis 2018 (Quelle: Weltbank)

Auf der Grund­lage ihrer entwick­lungs­theo­re­ti­schen Forschun­gen erar­bei­te­ten sozia­lis­ti­sche Wissen­schaft­ler im 20. Jahr­hun­dert eine eigene Theo­rie, die zunächst als „nicht­ka­pi­ta­lis­ti­sche Entwick­lung“ bezeich­net und später in „sozia­lis­tisch orien­tierte Entwick­lung“ umbe­nannt wurde. Sie ging davon aus, dass die ehema­li­gen Kolo­nien in Afrika und Asien – in denen feudale oder sogar vorfeu­dale Verhält­nisse herrsch­ten – nicht densel­ben Weg der kapi­ta­lis­ti­schen Entwick­lung durch­lau­fen könn­ten, den Westur­opa im 18. und 19. Jahr­hun­dert durch­lief. Statt­des­sen könnte das sozia­lis­ti­sche Welt­sys­tem jungen Natio­nal­staa­ten dabei helfen, aus der globa­len kapi­ta­lis­ti­schen Arbeits­tei­lung auszu­stei­gen, die kapi­ta­lis­ti­sche Entwick­lungs­stufe zu über­sprin­gen und eine Peri­ode „nicht­ka­pi­ta­lis­ti­scher Entwick­lung“ hin zu einer indus­tria­li­sier­ten sozia­lis­ti­schen Wirt­schaft zu durchlaufen.

Die Mongo­li­sche Volks­re­pu­blik wurde als erfolg­rei­cher Test­fall für diese Stra­te­gie ange­se­hen. Das mongo­li­sche Volk, das aus einer Gesell­schaft hervor­ging, die durch feudale Ausbeu­tung, Analpha­be­tis­mus und eine nied­rige Lebens­er­war­tung gekenn­zeich­net war, trieb den Indus­tria­li­sie­rungs­pro­zess in einem histo­risch gese­hen sehr kurzen Zeit­raum voran, erreichte in den 1960er und 1970er Jahren beein­dru­ckende Wachs­tums­ra­ten und wurde das erste Land in Asien, in dem alle Menschen lesen und schrei­ben konn­ten. Mit der Entwick­lung der Mongo­lei beschäf­tig­ten wir uns kürz­lich auf einer Veran­stal­tung in Berlin, in deren Mittel­punkt ein Inter­view mit Dendev Terbish­dagva stand, der seine Studi­en­zeit in der DDR verbrachte und unter ande­rem von 2012 bis 2014 Vize-Premier­mi­nis­ter der Mongo­lei war. Eine Aufzeich­nung der Veran­stal­tung ist jetzt online.

Die Theo­rie der sozia­lis­tisch orien­tier­ten Entwick­lung wurde nach dem Zwei­ten Welt­krieg auch in Afrika ange­wandt. Anfang Okto­ber haben wir einen Vortrag darüber gehal­ten, wie Mali in den 1960er Jahren einen nicht­ka­pi­ta­lis­ti­schen Weg einschlug. Das Kern­stück der mali­schen Revo­lu­tion war die Umwand­lung der vorfeu­da­len Land­wirt­schaft in moderne Produk­ti­ons­ge­nos­sen­schaf­ten, die die Indus­tria­li­sie­rung des Landes finan­zie­ren soll­ten. In unse­rem Vortrag unter­su­chen wir die Erfolge und Rück­schläge dieser Stra­te­gie und spre­chen über die damals begrenz­ten Möglich­kei­ten bei der Unter­stüt­zung des sozia­lis­ti­schen Staates.

Diesen Novem­ber sind wir ins Zentrum für Entwick­lungs­for­schung der Univer­si­tät Bonn einge­la­den, um die Theo­rie des nicht­ka­pi­ta­lis­ti­schen Entwick­lungs­wegs vorzu­stel­len und über die Lehren für heute zu disku­tie­ren. Der Vortrag wird die Ursprünge der Theo­rie skiz­zie­ren und aufzei­gen, wie sie in Staa­ten wie Mali, Kongo, Südje­men und Afgha­ni­stan konkret ange­wen­det wurde. Wir werden auch reflek­tie­ren, wie die Auflö­sung des sozia­lis­ti­schen Lagers und der Aufstieg Chinas die Aussich­ten auf eine unab­hän­gige Entwick­lung in den ehema­li­gen Kolo­nien heute beein­flusst haben. Der Vortrag wird am 7. Novem­ber um 13:30 Uhr auf Englisch gehal­ten. Man kann entwe­der persön­lich oder online teil­neh­men. Alle Infos und Links findet ihr hier.

Entwicklung im ostdeutschen Kontext

Während seines Prak­ti­kums bei der IFDDR hat Phil­ipp sich eben­falls mit Fragen der Entwick­lung und Indus­tria­li­sie­rung beschäf­tigt, aller­dings im ostdeut­schen Kontext. In seinem umfas­sen­den Arti­kel über die Über­gangs­pe­ri­ode (1945–1949) zeich­net er nach, wie die Verwal­tung und die Werk­tä­ti­gen in der Sowje­ti­schen Besat­zungs­zone die Enteig­nung der Kriegs­ver­bre­cher und den Aufbau einer neuen Wirt­schaft in Angriff nahmen.

Blick von einem Kühl­turm auf die Hoch­öfen des Eisen­hüt­ten­kom­bi­nats, 1954.

Mit der Spal­tungs­po­li­tik der West­mächte wurde die Verbin­dung zum indus­tri­el­len west­deut­schen Kern­ge­biet gekappt. Es bestand kein eigen­stän­di­ger, geschlos­se­ner Repro­duk­ti­ons­pro­zess in der ostdeut­schen Wirt­schaft. Eine Schwer­indus­trie musste von Grund auf neu aufge­baut werden, während gleich­zei­tig Repa­ra­tio­nen gezahlt werden muss­ten und eine Wirt­schafts­blo­ckade und Sank­tio­nen die Einfuhr von Kohle und ande­ren wich­ti­gen Gütern verhin­der­ten. Unter diesen Bedin­gun­gen spielte die Mobi­li­sie­rung der Massen eine zentrale Rolle. Phil­ipp unter­sucht wich­tige Momente in diesem Zusam­men­hang, insbe­son­dere die soge­nann­ten Seques­ter-Kommis­sio­nen, die Akti­vis­ten­be­we­gung sowie die Arbei­ter- und Volkskontrolle.