Im Jahr 2015 einigten sich die 193 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen auf die „Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung“, in der siebzehn Ziele für nachhaltige Entwicklung (die sogenannten SDGs) festgelegt wurden, die innerhalb von fünfzehn Jahren erreicht werden sollten. In einem Bericht zur Bewertung der Fortschritte dieser Initiative kamen die Vereinten Nationen zu dem Schluss, dass im Durschnitt „nur 16 Prozent der Ziele auf dem besten Weg [sind], bis 2030 weltweit erreicht zu werden, während bei den restlichen 84 Prozent nur begrenzte Fortschritte oder eine Umkehrung der Fortschritte zu verzeichnen ist.“ Milliarden von Menschen – vor allem in den ehemaligen Kolonien – wurden des Fortschritts beraubt. Sie haben bis heute keinen Zugang zu angemessener Bildung, Gesundheitsversorgung, Ernährung und Wohnraum sowie zu Information und Kultur.
Der Bereich der Entwicklungstheorie widmet sich der Frage, warum dieses Elend besteht und wie es am besten zu überwinden ist. In der Nachkriegszeit stellten bürgerliche Wissenschaftler aus dem Westen bestimmte Theorien auf, die den Ländern Afrikas und Asiens selbst die Schuld gaben. Unterentwicklung war angeblich auf „interne Faktoren“ wie kulturell bedingte Faulheit, „traditionelle Denkweisen“ oder einen Mangel an Ressourcen zurückzuführen.
Im Gegensatz dazu argumentierten Wissenschaftler aus sozialistischen Staaten, dass diese Unterentwicklung eine direkte Folge der Kolonialherrschaft und der Aufrechterhaltung der Ausbeutung durch neokoloniale Mechanismen sei. Statt über Verhaltensmuster zu reden, müsste über die Stellung der ehemaligen Kolonien in der globalen kapitalistischen Arbeitsteilung gesprochen werden. Diese Länder wurden als abhängige, rückständige und ausgebeutete Komponenten (als Rohstofflieferanten und Exportmärkte) in die kapitalistische Weltwirtschaft integriert. Bedeutende Teile ihrer Volkswirtschaften befinden sich nach wie vor im Besitz und unter der Kontrolle des ausländischen Kapitals, so dass es in diesen Ländern keinen „geschlossenen“ Reproduktionsprozess gibt. Ein beträchtlicher Teil ihres Mehrprodukts und ihrer natürlichen Ressourcen fließen in die imperialistischen Metropolen.
Die These der sozialistischen Wissenschaftler war, dass diese Position innerhalb der globalen kapitalistischen Arbeitsteilung bedeutete, dass die ehemaligen Kolonien nicht in der Lage sein würden, sich auf demselben Weg zu entwickeln, den Westeuropa beschritten hatte. Die Mechanismen der kapitalistischen Wirtschaft bewahrten und vertieften die Abhängigkeitsverhältnisse. Zwar könnten bestimmte Staaten zeitweise ein starkes Wirtschaftswachstum in Bezug auf das BIP erzielen, doch gehe dies nicht mit einer „umfassenden Entwicklung der nationalen Wirtschaft und einer Verringerung der Abhängigkeit und Ausbeutung durch das internationale Monopolkapital einher.“ (Herbert Graf, 1988)
Betrachtet man den Stand der wirtschaftlichen Entwicklung Afrikas heute, so bestätigt sich diese These. Zwischen 2000 und 2014 verzeichnete der Kontinent beispielsweise Wachstumsraten von rund 4,5 Prozent, was in den westlichen Medien mit dem Narrativ „Afrika im Aufstieg“ gefeiert wurde. Doch hinter diesen Zahlen verbirgt sich eine düstere Realität: Der Anteil der verarbeitenden Industrie am Bruttoinlandsprodukt der afrikanischen Länder südlich der Sahara ist seit den 1970er Jahren tatsächlich geschrumpft. Die Reallöhne sind dadurch ebenfalls geschrumpft und liegen heute unter dem Wert der 1970er Jahre. Das heißt, Afrika hat ein Wachstum ohne Industrialisierung erlebt, wobei die hohen wirtschaftlichen Wachstumsraten auf die steigende Nachfrage und die steigenden Preise für natürliche Ressourcen zurückzuführen sind, was die Entwicklung nicht nachhaltig macht. „Industrialisierung ist die Essenz der Entwicklung“, betonte wiederholt die Afrikanische Union. Tatsächlich wurde Afrika durch seine tiefere Integration in die kapitalistische Weltwirtschaft zuletzt deindustrialisiert.
Auf der Grundlage ihrer entwicklungstheoretischen Forschungen erarbeiteten sozialistische Wissenschaftler im 20. Jahrhundert eine eigene Theorie, die zunächst als „nichtkapitalistische Entwicklung“ bezeichnet und später in „sozialistisch orientierte Entwicklung“ umbenannt wurde. Sie ging davon aus, dass die ehemaligen Kolonien in Afrika und Asien – in denen feudale oder sogar vorfeudale Verhältnisse herrschten – nicht denselben Weg der kapitalistischen Entwicklung durchlaufen könnten, den Westuropa im 18. und 19. Jahrhundert durchlief. Stattdessen könnte das sozialistische Weltsystem jungen Nationalstaaten dabei helfen, aus der globalen kapitalistischen Arbeitsteilung auszusteigen, die kapitalistische Entwicklungsstufe zu überspringen und eine Periode „nichtkapitalistischer Entwicklung“ hin zu einer industrialisierten sozialistischen Wirtschaft zu durchlaufen.
Die Mongolische Volksrepublik wurde als erfolgreicher Testfall für diese Strategie angesehen. Das mongolische Volk, das aus einer Gesellschaft hervorging, die durch feudale Ausbeutung, Analphabetismus und eine niedrige Lebenserwartung gekennzeichnet war, trieb den Industrialisierungsprozess in einem historisch gesehen sehr kurzen Zeitraum voran, erreichte in den 1960er und 1970er Jahren beeindruckende Wachstumsraten und wurde das erste Land in Asien, in dem alle Menschen lesen und schreiben konnten. Mit der Entwicklung der Mongolei beschäftigten wir uns kürzlich auf einer Veranstaltung in Berlin, in deren Mittelpunkt ein Interview mit Dendev Terbishdagva stand, der seine Studienzeit in der DDR verbrachte und unter anderem von 2012 bis 2014 Vize-Premierminister der Mongolei war. Eine Aufzeichnung der Veranstaltung ist jetzt online.
Die Theorie der sozialistisch orientierten Entwicklung wurde nach dem Zweiten Weltkrieg auch in Afrika angewandt. Anfang Oktober haben wir einen Vortrag darüber gehalten, wie Mali in den 1960er Jahren einen nichtkapitalistischen Weg einschlug. Das Kernstück der malischen Revolution war die Umwandlung der vorfeudalen Landwirtschaft in moderne Produktionsgenossenschaften, die die Industrialisierung des Landes finanzieren sollten. In unserem Vortrag untersuchen wir die Erfolge und Rückschläge dieser Strategie und sprechen über die damals begrenzten Möglichkeiten bei der Unterstützung des sozialistischen Staates.
Diesen November sind wir ins Zentrum für Entwicklungsforschung der Universität Bonn eingeladen, um die Theorie des nichtkapitalistischen Entwicklungswegs vorzustellen und über die Lehren für heute zu diskutieren. Der Vortrag wird die Ursprünge der Theorie skizzieren und aufzeigen, wie sie in Staaten wie Mali, Kongo, Südjemen und Afghanistan konkret angewendet wurde. Wir werden auch reflektieren, wie die Auflösung des sozialistischen Lagers und der Aufstieg Chinas die Aussichten auf eine unabhängige Entwicklung in den ehemaligen Kolonien heute beeinflusst haben. Der Vortrag wird am 7. November um 13:30 Uhr auf Englisch gehalten. Man kann entweder persönlich oder online teilnehmen. Alle Infos und Links findet ihr hier.
Entwicklung im ostdeutschen Kontext
Während seines Praktikums bei der IFDDR hat Philipp sich ebenfalls mit Fragen der Entwicklung und Industrialisierung beschäftigt, allerdings im ostdeutschen Kontext. In seinem umfassenden Artikel über die Übergangsperiode (1945–1949) zeichnet er nach, wie die Verwaltung und die Werktätigen in der Sowjetischen Besatzungszone die Enteignung der Kriegsverbrecher und den Aufbau einer neuen Wirtschaft in Angriff nahmen.
Mit der Spaltungspolitik der Westmächte wurde die Verbindung zum industriellen westdeutschen Kerngebiet gekappt. Es bestand kein eigenständiger, geschlossener Reproduktionsprozess in der ostdeutschen Wirtschaft. Eine Schwerindustrie musste von Grund auf neu aufgebaut werden, während gleichzeitig Reparationen gezahlt werden mussten und eine Wirtschaftsblockade und Sanktionen die Einfuhr von Kohle und anderen wichtigen Gütern verhinderten. Unter diesen Bedingungen spielte die Mobilisierung der Massen eine zentrale Rolle. Philipp untersucht wichtige Momente in diesem Zusammenhang, insbesondere die sogenannten Sequester-Kommissionen, die Aktivistenbewegung sowie die Arbeiter- und Volkskontrolle.