Auf dem Land vollzogen sich die umfassendsten Umbrüche

Max Roder­mund

2. Okto­ber 2024

Erfah­rene Genos­sen­schafts­bau­ern geben ihr Wissen an die Jugend weiter. Quelle: Dietz Verlag Berlin / ADN, 1985.

„Die tatsäch­li­che halbe Leib­ei­gen­schaft der ostelbi­schen Land­ar­bei­ter ist die Haupt­grund­lage der preu­ßi­schen Junker­herr­schaft und damit der spezi­fisch preu­ßi­schen Ober­herr­schaft in Deutsch­land“, schrieb Fried­rich Engels 1894.

Die als „preu­ßi­scher Weg“ bezeich­nete bürger­li­che Bauern­be­frei­ung in Deutsch­land verband die Heraus­bil­dung der kapi­ta­lis­ti­schen Produk­ti­ons­weise mit Elemen­ten feuda­ler Unter­ord­nung. Mit 1,8 Mrd. Mark und 425.169 ha (Hektar) Land­ab­tre­tun­gen muss­ten sich die Bauern von Feudal­las­ten noch frei­kau­fen. Land­ar­bei­ter wuch­sen im Verlauf des 19. Jh. zur zahlen­mä­ßig größ­ten sozia­len Gruppe auf dem Land an. 1907 beschäf­tig­ten Betriebe über 100 ha im Durch­schnitt 51 Arbei­ter. Östlich der Elbe war ihr Anteil am größ­ten, ergänzt noch durch auslän­di­sche, vorran­gig polni­sche, Saison­ar­bei­ter. Gesin­de­ord­nun­gen, die die körper­li­che Züch­ti­gung von Land­ar­bei­tern erlaub­ten, ihr unan­ge­mel­de­tes Verlas­sen der Guts­be­triebe und eine gewerk­schaft­li­che Orga­ni­sie­rung unter­sag­ten, waren offi­zi­ell mit der Novem­ber­re­vo­lu­tion Geschichte. Die wirt­schaft­lich und poli­tisch beherr­schende Rolle der expli­zit reak­tio­när gesinn­ten Junker verlän­gerte die recht­lose, nieder­ge­wor­fene Lage der Landbevölkerung.

Die Bodenreform – Junkerland in Bauernhand

Nur vor diesem Hinter­grund ist der histo­ri­sche Bruch, den die 1945 begon­nene Boden­re­form in der Sowje­ti­schen Besat­zungs­zone markierte, zu verste­hen. Sie war nicht allein eine Antwort auf die kriegs­ver­sehrte und gründ­lich verwüs­tete Land­wirt­schafts­pro­duk­tion, sondern been­dete die halb­feu­dale Junker­herr­schaft. Auf die Frage, warum mit der Boden­re­form neues Privat­ei­gen­tum geschaf­fen wurde, anstatt eine Sozia­li­sie­rung der Land­wirt­schaft zu betrei­ben, antwor­tete Walter Ulbricht 1947 weit­sich­tig: „Das könnte Ihnen, meine Herren, so passen, daß der Groß­grund­be­sitz zusam­men­ge­hal­ten wird, damit Sie später diesen Groß­grund­be­sitz in die Hände der alten Besit­zer zurück­ge­ben können! Nein, unser Kurs ist ein ande­rer: Wir handeln so, daß der Groß­grund­be­sitz voll­stän­dig aufge­teilt wird, damit es niemals wieder in Deutsch­land einen Groß­grund­be­sit­zer geben wird, der diesen Boden zurück­be­kom­men kann.“

Mit Hilfe der Boden­re­form­kom­mis­sio­nen setzte die Land­be­völ­ke­rung Enteig­nun­gen und die Neuauf­tei­lung des Bodens selbst aktiv durch. 3,3 mio. ha Land (ca. ein Drit­tel der gesam­ten land- und forst­wirt­schaft­li­chen Nutz­flä­che der SBZ) wurden enteig­net. Gut 75 % davon stammte aus enteig­ne­ten Privat­gü­tern mit über 100 ha Nutz­flä­che. Knapp 2,2 mio. ha des Boden­re­form­fonds wurden vorran­gig an land­lose Bauern, Umsied­ler und Klein­bau­ern verteilt. Die Boden­ei­gen­tums­struk­tur im Osten Deutsch­lands hatte sich radi­kal verän­dert. Die Über­gabe der Eigen­tums­ur­kun­den über den zuge­teil­ten Boden wurde zu einem Fest­tag in den Dörfern.

Die Verei­ni­gung der gegen­sei­ti­gen Bauern­hilfe (VdgB), Maschi­nen-Ausleih-Statio­nen und die Demo­kra­ti­sche Bauern­par­tei bilde­ten noch vor der Grün­dung der DDR die orga­ni­sa­to­ri­sche Grund­lage zur Demo­kra­ti­sie­rung der Dörfer und zur Entwick­lung koope­ra­ti­ver Produk­ti­ons­be­zie­hun­gen der Neubauern.

Die Genossenschaftsbewegung – „Vom Ich zum Wir“ 

1952 gab es insge­samt 871.724 Land­wirt­schafts­be­triebe in der DDR, davon waren nur 28.473 staat­li­che Betriebe. Zusam­men bewirt­schaf­te­ten sie die etwa 6,5 Millio­nen ha land­wirt­schaft­li­cher Nutz­flä­che der DDR. Die durch­schnitt­li­che Größe eines Betriebs betrug in etwa 7,5 ha. Zwei der acht Millio­nen Werk­tä­ti­gen der DDR arbei­te­ten damals in der Landwirtschaft.

Zur Stei­ge­rung der Nahrungs­gü­ter- und Rohstoff­ver­sor­gung und für einen effi­zi­en­te­ren Arbeits­kräf­te­be­satz rückte die Über­win­dung der Klein­pro­duk­tion alsbald auf die Agenda. Diese Frage blieb aller­dings so lange unge­löst, solange auch die Deut­sche Frage nicht abschlie­ßend geklärt war. Kurt Goss­wei­ler schätzte ein: „Die drin­gend notwen­dige Stei­ge­rung der Ertrags­kraft der Land­wirt­schaft stellte die DDR-Führung vor die Entschei­dung: Öffnung des Weges zur Groß­land­wirt­schaft, entwe­der zur kapi­ta­lis­ti­schen oder zur sozia­lis­ti­schen.“ Das Schei­tern der Stra­te­gie für ein einheit­li­ches, demo­kra­ti­sches und bünd­nis­freies Deutsch­land machte es notwen­dig, eine vom Westen unab­hän­gige und souve­räne wirt­schafts- und sicher­heits­po­li­ti­sche Entwick­lung voran­zu­trei­ben. Die zweite Partei­kon­fe­renz der SED gab 1952 den Weg zur Genos­sen­schafts­bil­dung frei. Dieser Prozess von 1952 bis 1960 dient bürger­li­chen Histo­ri­kern unter dem Schlag­wort der „Zwangs­kol­lek­ti­vie­rung“ bis heute als zentra­ler Beleg für den unde­mo­kra­ti­schen Charak­ter der „SED-Dikta­tur“.

Tatsäch­lich bestand vor dem Hinter­grund wirt­schaft­li­cher Entwick­lungs­er­for­der­nisse die Aufgabe darin, in kürzes­ter Zeit einen gewal­ti­gen Umbruch in der Arbeits‑, Lebens- und Denk­weise der Bauern voran­zu­brin­gen und die notwen­di­gen Struk­tu­ren zur land­wirt­schaft­li­chen Groß­pro­duk­tion heraus­zu­bil­den. Ohne die aktive Betei­li­gung der großen Masse der Bauern war dieser Prozess nicht zu schaf­fen. Für die aller­meis­ten, vor allem altein­ge­ses­se­nen Mittel- und Groß­bau­ern, war es im Jahr 1952 noch unvor­stell­bar, die über Gene­ra­tio­nen heran­ge­reifte Form des selbst­stän­di­gen Wirt­schaf­tens aufzu­ge­ben. Viele verhiel­ten sich ableh­nend, andere abwar­tend. Ihnen schien die lang­fris­tige Perspek­tive der DDR und des sozia­lis­ti­schen Aufbaus ebenso unsi­cher wie das Verspre­chen einer höhe­ren Produk­ti­vi­tät der genos­sen­schaft­li­chen Land­wirt­schaft. Es waren die klei­nen Höfe, Land­ar­bei­ter und Neubau­ern, die meist die größ­ten wirt­schaft­li­chen Schwie­rig­kei­ten und zugleich weni­ger feste Bindung an ihr Land hatten, sodass sie einfa­cher für den Eintritt in die LPG zu gewin­nen waren.

Der Aufbau des Sozia­lis­mus steckte in der DDR und Osteu­ropa noch in seinen Kinder­schu­hen. Konter­re­vo­lu­tio­näre Akti­vi­tä­ten des Westens hatten sich heiß gelau­fen (1953 in der DDR, 1956 in Ungarn und Polen). Nicht nur in der DDR entbrann­ten vor diesem Hinter­grund wieder­holt scharfe Ausein­an­der­set­zun­gen über das Verhält­nis von Frei­wil­lig­keit und ziel­ge­rich­te­ter Förde­rung der Genos­sen­schaf­ten durch den Staat. 1953 veröf­fent­lichte die SED eine Selbst­kri­tik und beschloss im Rahmen des Neuen Kurses den Druck zur Bildung von Genos­sen­schaf­ten zu redu­zie­ren. Gleich­zei­tig wurden Vorschläge wie staat­li­che Entwick­lungs­an­reize und Subven­tio­nen für Genos­sen­schaf­ten zu strei­chen, wie sie in Polen bspw. beschlos­sen wurden, scharf zurück­ge­wie­sen. Zusätz­lich muss­ten dieje­ni­gen Kräfte bekämpft werden, die die Entwick­lung hin zur sozia­lis­ti­schen Land­wirt­schaft aktiv sabotierten.

Im Früh­jahr 1960 wurden schließ­lich umfas­sende Kräfte mobi­li­siert, um die letz­ten Einzel­bau­ern vom Eintritt in die Genos­sen­schaft zu über­zeu­gen. Gemein­sam und orga­ni­siert zogen Grup­pen aus Mitglie­dern der Block­par­teien und Massen­or­ga­ni­sa­tio­nen der Natio­na­len Front in die Dörfer, um mit den Bauern zu disku­tie­ren. Beinahe alle unter­schrie­ben für den Eintritt in die LPG, auch wenn sich eine Über­zeu­gung für die genos­sen­schaft­li­che Arbeit oftmals erst einige Jahre später einstellte. Aus über 800.000 einzel­bäu­er­li­chen Wirt­schaf­ten mit einer durch­schnitt­li­chen land­wirt­schaft­li­chen Nutz­flä­che von rund 7 ha waren über 19.000 LPG mit einer durch­schnitt­li­chen Betriebs­größe von 245 ha entstan­den. 85 % der gesam­ten land­wirt­schaft­li­chen Nutz­flä­che wurden nunmehr genos­sen­schaft­lich bewirtschaftet.

Sozialistische Landwirtschaft

Die LPG waren eigen­stän­dige Wirt­schafts­ein­hei­ten, kein Zusam­men­schluss von ansons­ten unab­hän­gi­gen Betrie­ben und nahmen als solche eine breite gesell­schaft­li­che Funk­tion für wirt­schaft­li­che, soziale und kultu­relle Aufga­ben wahr. Erst durch ihre Zweck­be­stim­mung, ihre Arbeits- und Orga­ni­sa­ti­ons­weise und vor allem ihre fest inte­grierte Rolle inner­halb der Plan­wirt­schaft der DDR (ab 1959 fest­ge­hal­ten im LPG-Gesetz) wurde ihr sozia­lis­ti­scher Charak­ter eingelöst.

Die Viel­fach­be­las­tung der Bäue­rin und die im Fami­li­en­be­trieb übli­che Kinder­ar­beit wurden in der LPG aufge­ho­ben. Frauen und Jugend­li­che wurden zu gleich­be­rech­tig­ten Mitglie­dern. Glei­cher Lohn für glei­che Arbeit, unab­hän­gig von Alter und Geschlecht, Kinder­geld, Urlaub, Kran­ken­geld, Gesund­heits­ver­sor­gung, gere­gelte Arbeits­zei­ten – bislang unvor­stell­bare Errun­gen­schaf­ten in der Land­wirt­schaft konn­ten durch die Genos­sen­schaf­ten ermög­licht werden. Die LPG wurden zum Zentrum der sozia­len und kultu­rel­len Entwick­lung auf den Dörfern. In Zusam­men­ar­beit mit den Räten der Kreise und Bezirke wurden Stra­ßen und Wohn­häu­ser gebaut, Biblio­the­ken und Kultur­häu­ser betrie­ben, Kinder­gär­ten geschaf­fen, Sport- und Kultur­ver­an­stal­tun­gen orga­ni­siert, etc. In den 60er Jahren begann eine sprung­hafte Zunahme der Quote der Beschäf­tig­ten mit abge­schlos­se­ner Fach- und Hoch­schul­aus­bil­dung. Eine regel­rechte Bildungs­re­vo­lu­tion für die Land­be­völ­ke­rung setzte ein.

Zuneh­mende Koope­ra­ti­ons­be­zie­hun­gen zwischen den Genos­sen­schaf­ten und Betrie­ben der Verar­bei­tung und des Handels haben die Inte­gra­tion in das Planungs­sys­tem der DDR vertieft und eine Annä­he­rung an eine indus­trie­mä­ßige Groß­pro­duk­tion bedeu­tet. Die Agrar-Indus­trie-Verei­ni­gung (AIV) verkör­pert diesen Prozess einer insti­tu­tio­na­li­sier­ten Koope­ra­tion wohl am deut­lichs­ten. Drei­zehn dieser gewal­ti­gen Produk­ti­ons­kom­plexe wurden bis zum Ende der DDR gebil­det. Die Groß­pro­duk­tion warf einige neue Fragen und Probleme auf. Die später als unzweck­mä­ßig beur­teilte Tren­nung der Tier- und Pflan­zen­pro­duk­tion, konnte zuletzt wieder korri­giert werden. Fragen, wie nach einer Grenze der wissen­schaft­li­chen Kontrol­lier­bar­keit der biolo­gisch und umwelt­ab­hän­gi­gen Land­wirt­schafts­pro­duk­tion blie­ben disku­tiert. Brigade- und Genos­sen­schafts­ver­samm­lun­gen, Bauern­kon­gresse, Vertre­tun­gen in der Natio­na­len Front, der Volks­kam­mer, den Krei­sen und Bezir­ken, und nicht zuletzt der öffent­li­che Austausch in Medien schu­fen grund­sätz­lich die Voraus­set­zun­gen, Probleme und Wider­sprü­che zu bear­bei­ten. Ob sie dafür aktiv genutzt wurden, hing wie so oft, nicht zuletzt vom Einzel­nen und von der Weit­sicht leiten­der Kader ab.

Abwicklung – Um eine Epoche zurück

Der Schwer­punkt der Land­wirt­schafts­trans­for­ma­tion nach 1990 lag in der Liqui­die­rung der LPG.  Sie soll­ten dem in West­deutsch­land vorherr­schen­den Modell der Fami­li­en­wirt­schaf­ten weichen. Zu dem Zeit­punkt waren 45 % der von den Genos­sen­schaf­ten bewirt­schaf­te­ten Böden volks­ei­gen. Der gesamte staat­li­che Boden­be­sitz wurde nach und nach priva­ti­siert. Hier lag ein entschei­den­der Hebel, um die LPG-Struk­tu­ren aufzu­bre­chen und zu zerschla­gen. Dadurch, dass ein großer Teil des Bodens aller­dings weiter­hin Privat­ei­gen­tum der in den LPG zusam­men­ge­schlos­se­nen Bauern war, behiel­ten sie Möglich­kei­ten, um zumin­dest Teile der LPG unter kapi­ta­lis­ti­schen Bedin­gun­gen fort­zu­füh­ren. Die Struk­tur­ver­än­de­run­gen, die direkt nach 1990 im Eiltempo verord­net wurden, führ­ten zur regel­rech­ten Land­flucht. Von den ehemals 923.000 Beschäf­tig­ten der Land­wirt­schaft der DDR wurden bis 1993 743.900 Arbeits­kräfte abge­baut, 4 von 5 muss­ten gehen. Die soziale und kultu­relle Infra­struk­tur wurde zerschla­gen. Insbe­son­dere junge und quali­fi­zierte Arbeits­kräfte verlie­ßen die Dörfer.

Trotz der radi­ka­len kapi­ta­lis­ti­schen Kehrt­wende drückt die Geschichte der DDR den Land­wirt­schafts­struk­tu­ren bis heute ihren sicht­ba­ren Stem­pel auf. Die Land­wirt­schafts­be­triebe im Osten Deutsch­lands bewirt­schaf­ten durch­schnitt­lich sehr viel größere Flächen als im Westen. Während im Osten 68 % der land­wirt­schaft­li­chen Nutz­flä­che in Betrie­ben mit über 500 ha bewirt­schaf­tet werden, sind es im Westen nur 2 %. Ehema­lige LPG, die unter neuen Rechts­for­men zumin­dest einen Teil ihrer Struk­tur unter markt­wirt­schaft­li­chen Bedin­gun­gen fort­füh­ren, werden durch die im Osten längst Einzug erhal­tene Boden­spe­ku­la­tion weiter unter Druck gesetzt. Stei­gende Pacht­ge­büh­ren drohen die Land­wirt­schafts­struk­tu­ren fort­wäh­rend zu zersetzen.

Ab 1990 waren die Bauern wieder auf sich allein gestellt: Absatz­schwie­rig­kei­ten, Preis­druck und Markt­kon­kur­renz brach­ten exis­ten­zi­elle Sorgen zurück. Mit der kapi­ta­lis­ti­schen Restau­ra­tion kamen auch die „billi­gen“, meist migran­ti­schen Ernte­hel­fer und Land­ar­bei­ter, kam die wach­sende Ungleich­heit zurück. Boden liegt als Speku­la­ti­ons­ob­jekt brach, anstatt Lebens­mit­tel zu produ­zie­ren. Der Profit ist zum bestim­men­den Faktor der Land­wirt­schaft gewor­den. „Das Land denen, die es bear­bei­ten“ steht heute auch im Osten Deutsch­lands wie in weiten Teilen der Welt, unter sehr ande­ren Vorzei­chen als 1945, wieder auf der Tagesordnung.

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