Max Rodermund
2. Oktober 2024
„Die tatsächliche halbe Leibeigenschaft der ostelbischen Landarbeiter ist die Hauptgrundlage der preußischen Junkerherrschaft und damit der spezifisch preußischen Oberherrschaft in Deutschland“, schrieb Friedrich Engels 1894.
Die als „preußischer Weg“ bezeichnete bürgerliche Bauernbefreiung in Deutschland verband die Herausbildung der kapitalistischen Produktionsweise mit Elementen feudaler Unterordnung. Mit 1,8 Mrd. Mark und 425.169 ha (Hektar) Landabtretungen mussten sich die Bauern von Feudallasten noch freikaufen. Landarbeiter wuchsen im Verlauf des 19. Jh. zur zahlenmäßig größten sozialen Gruppe auf dem Land an. 1907 beschäftigten Betriebe über 100 ha im Durchschnitt 51 Arbeiter. Östlich der Elbe war ihr Anteil am größten, ergänzt noch durch ausländische, vorrangig polnische, Saisonarbeiter. Gesindeordnungen, die die körperliche Züchtigung von Landarbeitern erlaubten, ihr unangemeldetes Verlassen der Gutsbetriebe und eine gewerkschaftliche Organisierung untersagten, waren offiziell mit der Novemberrevolution Geschichte. Die wirtschaftlich und politisch beherrschende Rolle der explizit reaktionär gesinnten Junker verlängerte die rechtlose, niedergeworfene Lage der Landbevölkerung.
Die Bodenreform – Junkerland in Bauernhand
Nur vor diesem Hintergrund ist der historische Bruch, den die 1945 begonnene Bodenreform in der Sowjetischen Besatzungszone markierte, zu verstehen. Sie war nicht allein eine Antwort auf die kriegsversehrte und gründlich verwüstete Landwirtschaftsproduktion, sondern beendete die halbfeudale Junkerherrschaft. Auf die Frage, warum mit der Bodenreform neues Privateigentum geschaffen wurde, anstatt eine Sozialisierung der Landwirtschaft zu betreiben, antwortete Walter Ulbricht 1947 weitsichtig: „Das könnte Ihnen, meine Herren, so passen, daß der Großgrundbesitz zusammengehalten wird, damit Sie später diesen Großgrundbesitz in die Hände der alten Besitzer zurückgeben können! Nein, unser Kurs ist ein anderer: Wir handeln so, daß der Großgrundbesitz vollständig aufgeteilt wird, damit es niemals wieder in Deutschland einen Großgrundbesitzer geben wird, der diesen Boden zurückbekommen kann.“
Mit Hilfe der Bodenreformkommissionen setzte die Landbevölkerung Enteignungen und die Neuaufteilung des Bodens selbst aktiv durch. 3,3 mio. ha Land (ca. ein Drittel der gesamten land- und forstwirtschaftlichen Nutzfläche der SBZ) wurden enteignet. Gut 75 % davon stammte aus enteigneten Privatgütern mit über 100 ha Nutzfläche. Knapp 2,2 mio. ha des Bodenreformfonds wurden vorrangig an landlose Bauern, Umsiedler und Kleinbauern verteilt. Die Bodeneigentumsstruktur im Osten Deutschlands hatte sich radikal verändert. Die Übergabe der Eigentumsurkunden über den zugeteilten Boden wurde zu einem Festtag in den Dörfern.
Die Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe (VdgB), Maschinen-Ausleih-Stationen und die Demokratische Bauernpartei bildeten noch vor der Gründung der DDR die organisatorische Grundlage zur Demokratisierung der Dörfer und zur Entwicklung kooperativer Produktionsbeziehungen der Neubauern.
Die Genossenschaftsbewegung – „Vom Ich zum Wir“
1952 gab es insgesamt 871.724 Landwirtschaftsbetriebe in der DDR, davon waren nur 28.473 staatliche Betriebe. Zusammen bewirtschafteten sie die etwa 6,5 Millionen ha landwirtschaftlicher Nutzfläche der DDR. Die durchschnittliche Größe eines Betriebs betrug in etwa 7,5 ha. Zwei der acht Millionen Werktätigen der DDR arbeiteten damals in der Landwirtschaft.
Zur Steigerung der Nahrungsgüter- und Rohstoffversorgung und für einen effizienteren Arbeitskräftebesatz rückte die Überwindung der Kleinproduktion alsbald auf die Agenda. Diese Frage blieb allerdings so lange ungelöst, solange auch die Deutsche Frage nicht abschließend geklärt war. Kurt Gossweiler schätzte ein: „Die dringend notwendige Steigerung der Ertragskraft der Landwirtschaft stellte die DDR-Führung vor die Entscheidung: Öffnung des Weges zur Großlandwirtschaft, entweder zur kapitalistischen oder zur sozialistischen.“ Das Scheitern der Strategie für ein einheitliches, demokratisches und bündnisfreies Deutschland machte es notwendig, eine vom Westen unabhängige und souveräne wirtschafts- und sicherheitspolitische Entwicklung voranzutreiben. Die zweite Parteikonferenz der SED gab 1952 den Weg zur Genossenschaftsbildung frei. Dieser Prozess von 1952 bis 1960 dient bürgerlichen Historikern unter dem Schlagwort der „Zwangskollektivierung“ bis heute als zentraler Beleg für den undemokratischen Charakter der „SED-Diktatur“.
Tatsächlich bestand vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Entwicklungserfordernisse die Aufgabe darin, in kürzester Zeit einen gewaltigen Umbruch in der Arbeits‑, Lebens- und Denkweise der Bauern voranzubringen und die notwendigen Strukturen zur landwirtschaftlichen Großproduktion herauszubilden. Ohne die aktive Beteiligung der großen Masse der Bauern war dieser Prozess nicht zu schaffen. Für die allermeisten, vor allem alteingesessenen Mittel- und Großbauern, war es im Jahr 1952 noch unvorstellbar, die über Generationen herangereifte Form des selbstständigen Wirtschaftens aufzugeben. Viele verhielten sich ablehnend, andere abwartend. Ihnen schien die langfristige Perspektive der DDR und des sozialistischen Aufbaus ebenso unsicher wie das Versprechen einer höheren Produktivität der genossenschaftlichen Landwirtschaft. Es waren die kleinen Höfe, Landarbeiter und Neubauern, die meist die größten wirtschaftlichen Schwierigkeiten und zugleich weniger feste Bindung an ihr Land hatten, sodass sie einfacher für den Eintritt in die LPG zu gewinnen waren.
Der Aufbau des Sozialismus steckte in der DDR und Osteuropa noch in seinen Kinderschuhen. Konterrevolutionäre Aktivitäten des Westens hatten sich heiß gelaufen (1953 in der DDR, 1956 in Ungarn und Polen). Nicht nur in der DDR entbrannten vor diesem Hintergrund wiederholt scharfe Auseinandersetzungen über das Verhältnis von Freiwilligkeit und zielgerichteter Förderung der Genossenschaften durch den Staat. 1953 veröffentlichte die SED eine Selbstkritik und beschloss im Rahmen des Neuen Kurses den Druck zur Bildung von Genossenschaften zu reduzieren. Gleichzeitig wurden Vorschläge wie staatliche Entwicklungsanreize und Subventionen für Genossenschaften zu streichen, wie sie in Polen bspw. beschlossen wurden, scharf zurückgewiesen. Zusätzlich mussten diejenigen Kräfte bekämpft werden, die die Entwicklung hin zur sozialistischen Landwirtschaft aktiv sabotierten.
Im Frühjahr 1960 wurden schließlich umfassende Kräfte mobilisiert, um die letzten Einzelbauern vom Eintritt in die Genossenschaft zu überzeugen. Gemeinsam und organisiert zogen Gruppen aus Mitgliedern der Blockparteien und Massenorganisationen der Nationalen Front in die Dörfer, um mit den Bauern zu diskutieren. Beinahe alle unterschrieben für den Eintritt in die LPG, auch wenn sich eine Überzeugung für die genossenschaftliche Arbeit oftmals erst einige Jahre später einstellte. Aus über 800.000 einzelbäuerlichen Wirtschaften mit einer durchschnittlichen landwirtschaftlichen Nutzfläche von rund 7 ha waren über 19.000 LPG mit einer durchschnittlichen Betriebsgröße von 245 ha entstanden. 85 % der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche wurden nunmehr genossenschaftlich bewirtschaftet.
Sozialistische Landwirtschaft
Die LPG waren eigenständige Wirtschaftseinheiten, kein Zusammenschluss von ansonsten unabhängigen Betrieben und nahmen als solche eine breite gesellschaftliche Funktion für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Aufgaben wahr. Erst durch ihre Zweckbestimmung, ihre Arbeits- und Organisationsweise und vor allem ihre fest integrierte Rolle innerhalb der Planwirtschaft der DDR (ab 1959 festgehalten im LPG-Gesetz) wurde ihr sozialistischer Charakter eingelöst.
Die Vielfachbelastung der Bäuerin und die im Familienbetrieb übliche Kinderarbeit wurden in der LPG aufgehoben. Frauen und Jugendliche wurden zu gleichberechtigten Mitgliedern. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit, unabhängig von Alter und Geschlecht, Kindergeld, Urlaub, Krankengeld, Gesundheitsversorgung, geregelte Arbeitszeiten – bislang unvorstellbare Errungenschaften in der Landwirtschaft konnten durch die Genossenschaften ermöglicht werden. Die LPG wurden zum Zentrum der sozialen und kulturellen Entwicklung auf den Dörfern. In Zusammenarbeit mit den Räten der Kreise und Bezirke wurden Straßen und Wohnhäuser gebaut, Bibliotheken und Kulturhäuser betrieben, Kindergärten geschaffen, Sport- und Kulturveranstaltungen organisiert, etc. In den 60er Jahren begann eine sprunghafte Zunahme der Quote der Beschäftigten mit abgeschlossener Fach- und Hochschulausbildung. Eine regelrechte Bildungsrevolution für die Landbevölkerung setzte ein.
Zunehmende Kooperationsbeziehungen zwischen den Genossenschaften und Betrieben der Verarbeitung und des Handels haben die Integration in das Planungssystem der DDR vertieft und eine Annäherung an eine industriemäßige Großproduktion bedeutet. Die Agrar-Industrie-Vereinigung (AIV) verkörpert diesen Prozess einer institutionalisierten Kooperation wohl am deutlichsten. Dreizehn dieser gewaltigen Produktionskomplexe wurden bis zum Ende der DDR gebildet. Die Großproduktion warf einige neue Fragen und Probleme auf. Die später als unzweckmäßig beurteilte Trennung der Tier- und Pflanzenproduktion, konnte zuletzt wieder korrigiert werden. Fragen, wie nach einer Grenze der wissenschaftlichen Kontrollierbarkeit der biologisch und umweltabhängigen Landwirtschaftsproduktion blieben diskutiert. Brigade- und Genossenschaftsversammlungen, Bauernkongresse, Vertretungen in der Nationalen Front, der Volkskammer, den Kreisen und Bezirken, und nicht zuletzt der öffentliche Austausch in Medien schufen grundsätzlich die Voraussetzungen, Probleme und Widersprüche zu bearbeiten. Ob sie dafür aktiv genutzt wurden, hing wie so oft, nicht zuletzt vom Einzelnen und von der Weitsicht leitender Kader ab.
Abwicklung – Um eine Epoche zurück
Der Schwerpunkt der Landwirtschaftstransformation nach 1990 lag in der Liquidierung der LPG. Sie sollten dem in Westdeutschland vorherrschenden Modell der Familienwirtschaften weichen. Zu dem Zeitpunkt waren 45 % der von den Genossenschaften bewirtschafteten Böden volkseigen. Der gesamte staatliche Bodenbesitz wurde nach und nach privatisiert. Hier lag ein entscheidender Hebel, um die LPG-Strukturen aufzubrechen und zu zerschlagen. Dadurch, dass ein großer Teil des Bodens allerdings weiterhin Privateigentum der in den LPG zusammengeschlossenen Bauern war, behielten sie Möglichkeiten, um zumindest Teile der LPG unter kapitalistischen Bedingungen fortzuführen. Die Strukturveränderungen, die direkt nach 1990 im Eiltempo verordnet wurden, führten zur regelrechten Landflucht. Von den ehemals 923.000 Beschäftigten der Landwirtschaft der DDR wurden bis 1993 743.900 Arbeitskräfte abgebaut, 4 von 5 mussten gehen. Die soziale und kulturelle Infrastruktur wurde zerschlagen. Insbesondere junge und qualifizierte Arbeitskräfte verließen die Dörfer.
Trotz der radikalen kapitalistischen Kehrtwende drückt die Geschichte der DDR den Landwirtschaftsstrukturen bis heute ihren sichtbaren Stempel auf. Die Landwirtschaftsbetriebe im Osten Deutschlands bewirtschaften durchschnittlich sehr viel größere Flächen als im Westen. Während im Osten 68 % der landwirtschaftlichen Nutzfläche in Betrieben mit über 500 ha bewirtschaftet werden, sind es im Westen nur 2 %. Ehemalige LPG, die unter neuen Rechtsformen zumindest einen Teil ihrer Struktur unter marktwirtschaftlichen Bedingungen fortführen, werden durch die im Osten längst Einzug erhaltene Bodenspekulation weiter unter Druck gesetzt. Steigende Pachtgebühren drohen die Landwirtschaftsstrukturen fortwährend zu zersetzen.
Ab 1990 waren die Bauern wieder auf sich allein gestellt: Absatzschwierigkeiten, Preisdruck und Marktkonkurrenz brachten existenzielle Sorgen zurück. Mit der kapitalistischen Restauration kamen auch die „billigen“, meist migrantischen Erntehelfer und Landarbeiter, kam die wachsende Ungleichheit zurück. Boden liegt als Spekulationsobjekt brach, anstatt Lebensmittel zu produzieren. Der Profit ist zum bestimmenden Faktor der Landwirtschaft geworden. „Das Land denen, die es bearbeiten“ steht heute auch im Osten Deutschlands wie in weiten Teilen der Welt, unter sehr anderen Vorzeichen als 1945, wieder auf der Tagesordnung.